Russifizierter Bournonville
„La Sylphide“ mit dem Mariinsky-Ballett
So viel lässt sich von Yuri Fateyev, seit einem Jahr neuer Direktor des Mariinsky-Balletts, schon sagen: er mag die Moderne lieber als die rekonstruierten Originalchoreografien der großen Klassiker, mit denen die St. Petersburger Kompanie einige Jahre lang Furore machte. Dem Baden-Badener Publikum bescherte er zur abschließenden Gala des einwöchigen Gastspiels deshalb einen interessanten, sozusagen amerikanischen Abend mit Werken von Jerome Robbins und George Balanchine; zu Sowjetzeiten waren beide noch in Russland verpönt. Das elegante „In the Night“ von Robbins steht den Mariinsky-Solisten bestens, auch wenn die drei Pas de deux zu Chopin-Nocturnes manchmal subtilere Zwischentöne fordern, einen natürlicheren und leichteren Fluss der Bewegungen. Aber die ganz leichte Distanz und Reserviertheit der russischen Tänzer passt gut zur weltläufigen Stimmung dieser mitternächtlichen Choreografie. Anastasia und Denis Matvienko blieben dem ersten Pas de deux ein wenig die jugendliche Poesie schuldig, während Ekaterina Kondaurova neben Yevgeny Ivanchenko im zweiten Pas de deux durch die fließende Eleganz einer eigenwilligen Persönlichkeit bestach, fast noch mehr als Ulyana Lopatkina neben Danila Korsuntsev im letzten, stark emotionalen Duo. Im Gegensatz zu Robbins‘ leichter, feiner Handschrift liefert Balanchines „Theme and Variations“, zum pompösen Schluss-Satz einer Tschaikowsky-Orchestersuite, die perfekte Hommage an den russisch-akademischen Stil, samt Tutus und Krönchen. Viktoria Tereshkina zelebrierte die schwierige Solorolle strahlend sicher, Vladimir Shklyarov partnerte souverän, kämpfte aber wie fast alle Interpreten mit der endlosen Kombination aus Double Tours und Drehungen in seiner Variation. Das Corps de ballet überzeugte wie immer durch die Homogenität der Damen, die Herren indes sprangen höchst unmusikalisch durcheinander.
Vor diesen beiden Werken stand das übliche, fast eineinhalbstündige Gala-Divertissement aus virtuosen Pas de deux. Victor Gsovkys „Grand Pas Classique“ wurde von Evgenya Obraztsova und Maxim Zyuzin zwar technisch formidabel exekutiert, sah aber in der Phrasierung eher russisch-akademisch als französisch-charmant aus. Ihre Arme schwebten wenig elegant, ihm fehlt bei aller aufrichtigen Korrektheit der Interpretation das Spektakuläre, der Gala-Glanz – er wirkt einfach ein wenig langweilig, wie leider so viele Herren dieser Kompanie. Auch Yevgeny Ivanchenko, der neben der sinnlichen, geschmeidigen Ekaterina Kondaurova in Fokines „Scheherazade“-Pas-de-deux nichts von der Faszination Nijinskys erahnen ließ und neben ihrem Stilgefühl für die lasziven, orientalischen Posen manchmal fast hilflos zurückblieb. Sie aber, eine rothaarige Schönheit mit vibrierender Bühnenpräsenz und großer dramatischer Gabe, sah man förmlich als Kameliendame oder Tatjana vor sich. Leonid Sarafanov wiederholte in Balanchines neapolitanisch-virtuoser „Tarantella“ den Triumph vom Vortag – wo andere Tänzer Mühe haben, überhaupt durch die rasend schnellen Schritte zu kommen, verzögerte und phrasierte er neckisch, spielte nach Lust und Laune mit der Choreografie, dass man ihm die etwas unorthodoxen Einlagen gerne vergab und der zuverlässigen Nadezhda Gonchar vor lauter Faszination kaum die nötige Aufmerksamkeit widmen konnte. Seltsam leer sah bei allem Technik-Feuerwerk der „Don Quixote“-Pas-de-deux von Anastasia und Denis Matvienko aus; das Ehepaar aus der Ukraine wechselte erst vor Kurzem vom Michailovsky-Theater zum Mariinsky-Ballett und führte an diesem Abend den winzigen Unterschied zwischen Zirkusnummer und Virtuosentum vor. Er wirbelte eine rasend schnelle Manege mit hohen Sprüngen auf die Bühne, sie drehte 32 Fouettés, zwar mit etwas hängendem Bein, aber auf dem Punkt, und doch sah das alles so neutral, so mechanisch aus – es fehlte die subtile Phrasierung, die natürliche Eleganz, das feine Kokettieren mit Minkus’ sprudelnder Musik, mit einem Wort: der Stil. Nicht mal der Mariinsky-Stil, sondern überhaupt ein Stil.
Schon rein historisch interessant war der Pas de six aus „La Vivandière“ („Die Marketenderin“), ein Ballett von Arthur Saint-Léon aus dem Jahr 1844. Der Ausschnitt wurde fürs damalige Kirov-Ballett von Pierre Lacotte rekonstruiert und hatte bei aller volkstümlichen Possierlichkeit etwas von einem mechanischen Puppenspiel, die vier Mädchen und das Solistenpaar schnurrten anfangs über die Bühne wie aufgezogen. Später kamen immer mehr Schwierigkeiten, Elena Evseeva zeigte eine Reihe perfekter Cabrioles und sprang auch sonst leicht, hoch und weit, Fillip Stepin drehte seine Tours en l’air abwechselnd links und rechts herum. Choreografisch herrscht meist absolute Symmetrie, getanzt wird vor allem in vertikaler und horizontaler Richtung, auch die vielen zweiten Positionen mit offenen Beinen sehen heute etwas ungewohnt aus – umso überraschender kam die aufregende Schlusspose, die Balanchines aufgefächerte Beine in „Apollo“ vorwegnimmt. So also wurde vor Petipa getanzt – was für eine Neuerung waren dagegen sein größeres Schrittvokabular, seine Eleganz, seine Ensemblearchitekturen! Die Überraschung des Abends stammte aus Stuttgart – die große, ätherische Ulyana Lopatkina und ihr ansonsten etwas hölzerner Partner Danila Korsuntsev tanzten Christian Spucks Ballettparodie „Le Grand Pas de deux“, die auch schon bis zum ABT gelangt war. Während ein etwas verunsichertes Publikum noch rätselte, ob sich diese vollendeten, verfeinerten Tänzer vom Olymp des klassischen Balletts wirklich über ihre hehre Kunst lustig machen dürfen, amüsierten sich die beiden königlich und entwickelten eine fast noch subtilere Selbstironie als die „westlichen“ Interpreten des verschusselten Duos zu perlender Rossini-Musik. Sie rückte sich immer mal wieder die Brille auf dem Näschen zurecht, er warf ihr zum Teil mörderische Blicke zu und parodierte seine sonstige Rolle als devoter Partner der Starballerina mit so viel Witz, dass er ihr noch beim Schlussapplaus die Blumen vor die Füße warf. Zwei ansonsten so distanzierte Mariinsky-Tänzer begaben sich sehr bewusst von ihrem Sockel herunter und waren zehn Minuten lang keine Ballettgötter mehr, sondern sehr humorvolle Menschen – eine völlig neue Facette, die dennoch nicht jedem gefallen mag. Die Mechanismen der eigenen Kunst mit liebevoller Ironie zu durchschauen und ihr gleich darauf wieder mit aller Hingabe zu huldigen, auch das hat Größe. Das Mariinsky-Ballett ist definitiv in der Gegenwart angekommen.
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