Sinfonie zum Eintauchen

Xavier Le Roy gastiert mit „Le Sacre du Printemps“ in München

München, 22/04/2009

Es ist wohl zu schön, um wahr zu sein. Da kommt Xavier Le Roy und dirigiert, fast wie vor dem Schlafzimmerspiegel, Strawinskys „Sacre du Printemps“ – und das Ergebnis ist packende Körperarbeit, die außer Musikgenuss auch noch neue Einsichten in eines der größten Werke des 20. Jahrhunderts bietet. Tanz muss doch unbequem sein, und abstrakt! Maulen jedenfalls einige, die Le Roys „Le Sacre du Printemps“ seit der Uraufführung 2007 in Montpellier sahen. Was schwer zu verstehen ist. Denn jemanden sich einmal ganz konkret mit dem Verhältnis von Musik und Bewegung auseinander setzen zu sehen, anhand eines greifbaren Beispiels, ist nicht nur eine Wohltat. Es ist auch höchste Zeit im aktuellen Wald des intellektuellen und immer virtuelleren Tanztheaters.

Le Roy dirigiert den „Sacre“. Oder dirigiert die Musik ihn? Den Zuschauern in der Muffathalle, wo Le Roy gastierte, drängte sich der Eindruck eines neuen Tanz-Klang-Verhältnisses nicht sofort auf. Erst einmal gab es eine Anleitung: den Dirigenten von hinten, wie er mit den Armen wedelt, ein eingängiges Bild. Doch dann dreht Le Roy sich um, und ein Machtspiel wird sichtbar. Zunächst beherrscht der Dirigent die Sinfonie: Er deutet auf die Streicher, lockt die Flöten, gibt den Schwung vor. Irgendwann wird seine Körpersprache aber ausladender. Er formt den Klang wie Brotteig, lenkt ihn wie einen reißenden Fluss, setzt sogar die Beine ein... bis er wie ein Delfin in den Klang hineinspringt, sich tragen lässt. Und das alles mit den Bewegungen Simon Rattles, die Le Roy sich von einem Probenvideo abgeschaut hat! Da drängen sich Aspekte auf, die man für erledigt hielt, und die wohl neuer Klärung bedürfen. Etwa die Frage, ob Musik auch dazu Bewegung verführt, wo man es für ausgeschlossen hält. Oder die, was zuerst da war: Musik oder Tanz? Le Roy dirigiert immerhin teils ohne Musikeinspielung, wobei man dennoch vermeint, etwas zu hören.

Es ist nicht die Geschichte eines Frühlingsopfers, die Le Roy erzählt, sondern die musikalische Meta-Story dahinter. Die ist im letzten Drittel doch etwas lang, bringt Wiederholungen. Angesichts der Präzision, mit der sie erzählt wird, ist das aber verzeihlich. Wer meint, Le Roy imitiere nur Rattle, der irrt. Vielmehr hat er dessen Sprache gelernt und spricht nun in ihr zu einem imaginären Orchester, dort, wo die Zuschauer sitzen. Eine Situation, die nebenbei noch etwas anderes, Kostbares schenkt: Igor Strawinskys Werk wird so neu erlebt, man hört Bilder, Zusammenhänge, die vorher nie da waren. Gerade für Menschen, die wenig Beziehung zu klassischer Musik, oder auch nur zur Avantgarde haben, gehen hier reihenweise verschlossene Türen auf.

Warum noch kein Tänzer auf die Idee gekommen ist, sich mit dem Dirigieren auseinander zu setzen, darf man sich fragen. Fest steht, dass Le Roys „Sacre“ nur als Live-Performance wirkt. Unautorisierte Filmaufnahmen kann man getrost wegwerfen, und auch Schulklassen, die derartige Qualität oft nur auf Video erleben, haben leider das Nachsehen. Stattdessen darf sich jeder, der in der Vorstellung saß, glücklich schätzen.

www.accesstodance.de/

 

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