Crankos Erbe
Das Stuttgarter Ballett trauert um Dieter Graefe
Kurz vor Mitternacht, nach knapp fünf Stunden Gala, sangen wir endlich alle „Happy Birthday“. Davor waren einige von Europas berühmtesten Choreografen auf die Bühne der Stuttgarter Staatsoper marschiert, um Reid Anderson zum 60. Geburtstag zu gratulieren, viele seiner ehemaligen Tänzer hatten die Spitzenschuhe wieder rausgeholt und wochenlang trainiert, seine Stuttgarter Kompanie hatte Uraufführungen oder längst vergessene Werke einstudiert – sie schwelgten, steppten, sangen, blödelten und übertrafen sich gegenseitig in Liebesbeweisen für ihren Chef. Nun hat der Ballettkünstler als solcher eine natürliche Neigung zu Gala-Abenden und festlichen Einmaligkeiten, aber manch einer der zahlreichen Ballettdirektoren oder Choreografen im Publikum (gesehen wurden u.a. John Neumeier, Hans van Manen, Monica Mason, Ivan Liška, Konstanze Vernon, Paul Chalmer und Mauro Bigonzetti) fragte sich sicher, wie gut man seinen Job machen muss, um von seinem Ensemble einen so großartigen Abend geschenkt zu bekommen. Der Geehrte thronte in der Mittelloge, jede Nummer war eine Überraschung für ihn und das Publikum, unmittelbar zuvor angekündigt auf der Übertitelungsanlage der Oper. Gedruckte Programm gab es erst hinterher, organisiert hatte den Abend Andersons Stellvertreter Tamas Detrich.
Man kann die 20 Programmpunkte kaum aufzählen, die spektakulären Einlagen, die nostalgischen Erinnerungen und Neukreationen. Natürlich eröffnete die John-Cranko-Schule den Abend, sie zeigte das Finale ihrer mit jedem Mal schöner werdenden „Etuden“ und dann bauten die Schüler ein riesiges „Happy Birthday Reid“ mit ihren Körpern. Auch der innerstädtische Konkurrent Gauthier Dance erhielt fünf Werbeminuten zur besten Galazeit mit seinem flotten „Sofa“-Dreier (das Vorbild für Itzik Galilis komische Miniatur war dann später mit Hans van Manens „Sonntag“ zu besichtigen). Sämtliche Solisten der Stuttgarter Kompanie hatten irgendetwas Besonderes einstudiert, sogar die augenblicklich verletzten Elena Tentschikowa und Marijn Rademaker glitten als Ginger und Fred übers Parkett. Es gab Bekanntes – den Pas de deux aus John Neumeiers „Othello“ mit der fragilen Elizabeth Mason und Alexis Oliveira oder John Crankos fließend-schöne „Legende“, deren spektakuläre Hebungen bei Jason Reilly und Sue Jin Kang so federleicht aussehen – und einige Stuttgart-Premieren wie den mystisch-schönen Pas de deux aus Jiří Kyliáns „Bella figura“ mit Maria Eichwald und Friedemann Vogel oder das „Duetto Inoffensivo“ aus Mauro Bigonzettis „Rossini Cards“ für die beiden kampfesmüden Amazonen Katja Wünsche und Laura O’Malley. Dafür, dass auch er den Inhalt von Jaques Brels bitterem Chanson „Les Bourgeois“ nicht verstanden hat (hört denn wirklich keiner auf den Text?!), entschädigte Filip Barankiewicz mit den spektakulärsten Sprüngen, die Ben van Cauwenberghs Solo je gesehen hat.
An Reid Andersons Karriere als Tänzer erinnerte einzig ein Pas de trois aus William Forsythes „Traum des Galilei“ von 1978: die rare Gelegenheit, einen frühen Forsythe zu sehen, noch ganz im klassischen Stil, aber bereits analysiert vom Forschergeist des großen Intellektuellen. Und dann die vielen ehemaligen Mitglieder des Stuttgarter Balletts: manche tanzen noch wie Ivan Gil Ortega oder wie Robert Tewsley, der in einem „Kameliendame“-Duo die legendäre Zeit seiner Partnerschaft mit Sue Jin Kang wieder aufleben ließ. Andere haben ihre Karriere längst beendet, sind Geschäftsleute, Ballettdirektoren oder mehrfache Mütter – und kamen hier auf die Bühne, als hätten sie nie aufgehört. Thomas Lempertz huscht noch genauso unglaublich schnell wie früher durch Hans van Manens „Solo“, Yseult Lendvai hat noch immer diesen wunderbar leichten, schwebenden Port de bras (wie schade, dass sie nicht mit ihrem ehemaligen Partner Vladimir Malakhov tanzte – er war nicht eingeladen). Bestens gelaunt steppte der charmant ergraute Ivan Cavallari mit Sonia Santiago durch die „42nd Street“. Mit ihrer trockenen, so herrlich fein getimten Komik erwärmte Julia Krämer in Christian Spucks Ballettparodie „Le Grand Pas de deux“ neben Jason Reilly die Herzen - ihr Auftritt vor allem machte schmerzhaft deutlich hin, was Andersons junger, spritziger Kompanie dringend fehlt: Persönlichkeiten dieses Formats, ausgereifte und kluge Künstler mit Mut und Muse zur eigenen Interpretation.
Dem Stuttgarter Publikum ist es nämlich durchaus egal, wie alt seine Stars sind: Marcia Haydée und Egon Madsen – sie 72, er 66 – wurden für ihre Charakterkomik in Hans van Manens bieder-fiesem Ehezwist „Sonntag“ fast noch mehr umjubelt als ihre jüngeren Kollegen. Sehr liebevoll war auch die Platzierung dieses Pas de vieux: das Uraufführungs-Paar der „Kameliendame“ kam direkt nach ihren heutigen Rollennachfolgern Sue Jin Kang und Robert Tewsley. Alle fünf Choreografen des Ensembles steuerten Ur- oder Erstaufführungen bei, zunächst Bridget Breiner ein inniges „Adagio Assai“ für sich selbst und Douglas Lee, selbiger dann einen jener coolen Pas de deux, wo sich Alicia Amatriain zu schicker Musik überdehnt und von Jason Reilly herumgeworfen wird. Origineller war da schon Christian Spucks arg schräges „Ständchen“ für drei Schulbuben mit Karnevalshütchen, zu einer so ordinären wie witzigen Geräuschkomposition von Martin Donner; Alexander Zaitsev, Roland Havlica und Stefan Stewart amüsierten sich köstlich. Marco Goecke ließ im jazzig-melancholischen Solo „Fancy Goods“ rosarote Federfächer in eine schwarze Groteske hineinwippen, als tanzte Zizi Jeanmaire durch einen düsteren Traum; selbst für so ein Geburtstagsgeschenk choreografiert er einfach in einer anderen Liga. Friedemann Vogel, sonst eher der linientreue Klassizist, überraschte in dem für ihn völlig neuen Goecke-Stil mit einer Ausdrucksstärke, die ihn endgültig unter den ganz Großen einreiht. Mit einer flippigen Ensemble-Parade samt Brassband und Live-Percussion erinnerten Breiner und Demis Volpi an Reid Andersons Kindheit beim Showtanz, Andersons eigene und einwandfrei Broadway-taugliche Choreografie zu „42nd Street“ beschloss den gloriosen Abend, der Text der berühmten Showbiz-Hymne über die "dancing feet" wurde dazu eigens auf den Jubilar umgedichtet.
Link: www.stuttgart-ballet.de
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