Natürlich auserlesen!
„Natürliche Auslese“ heißt der neue Abend der Görlitzer Tanztheater-Kompanie
Einmal wird es ganz deutlich, was das Görlitzer Tanztheater mit seiner neuesten und bislang wohl größten Produktion erreichen will. Wir sollten sie erkennen, die Zeichen der Zeit, wir sollen sie sehen, lesen und verstehen, die Schrift an der Wand, das „Menetkel“, das den Untergang voraussagt. Als deutliches Zeichen wiederum wird auf der Bühne des Görlitzer Theaters vor der Wetterkarte des Fernsehens getanzt, die ja in der Tat so etwas wie ein modernes Menetekel ist. Da wird dann im Theater noch ein bisschen nachgeholfen, die Temperaturen steigen schon mal bis auf die allgemeine Kochstufe nach oben und bis in die Minusgrade, die ausreichen, eine globale Kühltruhe aus der Welt zu machen. Außerdem spielen in der Tanztheaterproduktion um Motive des Kassandra-Stoffes noch andere Bilder und Symbole eine deutliche Rolle. Da sind die Segmente eines Kreises, sie nutzen einzeln oder gruppiert unterschiedlichen Anlässen, einmal nur sind sie zusammengefügt, der Kreis als Ganzes, als Möglichkeit, als Vision, als Schutzraum, in dem dann auch mal alle Tänzerinnen und Tänzer liegen wie junge Vögel im Schutz ihres Nestes.
Eindrucksvoll auch, wenn über dem Geschehen in Anlehnung an die mittelalterlichen Figurenzüge der öffentlichen Uhren, die im Bild des Totentanzes Vergänglichkeit anmahnen und zugleich damit die Chance der Bewahrung aufzeigen wollen, vier Musiker eines Streichquartetts mit ihrem besonderen Klang vorüberziehen. Es gibt große Bilder der Gruppe, es gibt knappe Soli und mehrfach intensive Tanzpassagen in der Zweisamkeit. Es gibt Tänzerinnen und Tänzer, die aus ihren Rollen heraustreten, sich direkt an das Publikum wenden, von dort sind sie zu Beginn des Abends auch gekommen. Mitunter doch arg plakativ sind die Texte und ein knapper Dialog geraten; wenige Zitate aus Christa Wolfs „Kassandra“, deren Geist hier ja weht, hätten Wunder bewirkt, wenn den schon gesprochen werden muss. Die getanzten Passagen, zusammen mit der klugen Auswahl der Musik vom Band, mit den originalen Klängen des Streichquartetts und dem Gesang eines Frauenquartetts (die das Programmheft Musen nennt, die aber eher an den kommentierenden Chor des antiken Theaters erinnern), weisen aus, dass die Görlitzer Kompanie sich wohl so bewegen kann, dass gut zu sehen ist, was Bedrohung und Vergeblichkeit in Menschen zerbrechen lassen können. Dass sie zu viel wissen, können sie nämlich ganz ansprechend vermitteln. Darüber sind die ergraut, denn wissen will das niemand, was sie wissen, die zehn Tänzerinnen und Tänzer des Stücks von Gundula Peuthert in Görlitz.
Neunmal Kassandra, da denkt man auch an neunmalklug und hat noch einen Grund, wegzuhören oder darüber hinweg zusehen, wovon sie sprechen und was sie aufzeigen. Die Bürde dieses Fluches geht von einem Kassandra-Tänzer zum anderen, von einer Tänzerinnen zur nächsten. Es ist das unheimlich lang gewachsene Haar, wie feine Wurzeln, die weit reichen, bis in die Tiefen allen Geschehens und hoch in die Atmosphäre, wie Sensoren, wie Antennen, empfangen und vernehmen, was unweigerlich kommen muss. Dass sie in ihrer Erfolglosigkeit sich auch steigern in ungewöhnliche Aktionen, dass sie zu Ruhestörern werden, ist einem „Staatsdiener“ als einziger ziviler Figur Anlass zu manch skurriler Ordnungsmaßnahme und zur Entsorgung von Kassandra-Tänzerinnen. Dass da dennoch eine Sanduhr läuft und das Ticken der Wecker immer lauter wird, kann er nicht verhindern. Das ergibt manch exzellente Szene, die auch keines Wortes bedürfte, aber auch hier muss leider immer noch etwas gesagt werden. Am Ende des so engagierten, seismografischen Abends, bleibt ob seiner Wirkung doch ein produktives Unbehagen. Es ist in diesem Falle das Unbehagen an den Worten, angesichts so assoziativer und durchaus kraftvoller und berührender tänzerischer Annäherungen an Motive des Kassandra-Stoffes, die keiner Packungsbeilage bedürfen. Zudem wird ja wie eigentlich immer in Görlitz ein ausgezeichnetes Programmheft dem diagnostischen Tanztheaterabend beigegeben.
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