Gundula Peutherts „Schwanenseele“ am Ballett Cottbus

Gundula Peutherts „Schwanenseele“ am Ballett Cottbus

Fieberexzess einer Wegsuche

Das Staatstheater Cottbus berührt tief mit dem Tanzstück „Schwanenseele“

Gundula Peuthert denkt die Handlung weiter: Sie lässt zwar Siegfried sterben, doch Odette kann gerettet werden und muss mit dem Schmerz über den Verlust des Geliebten leben. So fern der Realität ist dieser Ansatz nicht.

Cottbus, 16/05/2015

Die Geschichte ist alt und verzwickt. Odette, in einen Schwan verwandelt, glaubt Prinz Siegfrieds Liebe errungen zu haben, bis der von einer täuschend echten Gegenspielerin verzaubert wird und damit den Schwur, auf ewig Odette zu lieben, bricht. Zu spät erkennt er den Betrug und kann mit Odette nur im Tod vereint sein. So jedenfalls haben 1877 Peter Tschaikowski und seine Choreografen ihre Ode auf die Liebe erdacht. Unzählige Versionen koexistieren heute auf den Bühnen der Welt, bis zu tiefenpsychologischen Lesarten um die Person des Komponisten. Für die acht Tänzer vom Ballett Cottbus denkt Gundula Peuthert die Handlung weiter: Sie lässt zwar Siegfried sterben, doch Odette, durch welches Wunder auch immer, kann gerettet werden und muss mit dem Schmerz über den Verlust des Geliebten leben. So fern der Realität ist dieser Ansatz nicht und zudem überaus interessant, was Überlebens-Mechanismen betrifft. Denn Odette mag lieber auch sterben, aber Menschen, die Ärzte vielleicht, hindern sie daran. Ihre verletzte „Schwanenseele“, dies der Titel des neunzigminütigen Tanzstücks, ersinnt sich Auswege.

Nach langem Schwebeton schälen sich aus dem Dunkel eine Wand mit der Projektion eines Gesichts und das zugehörige Mädchen: Odette in Betrachtung ihrer selbst. Musik Tschaikowskis klingt an und wird, Kompositionsprinzip des ganzen Abends, aufgelöst in elektronische Schwellungen und Zerrungen. Auch das Gesicht löst sich auf, als entschwinde es in Wasser. Geschäftig rennen Weißgewandete, rütteln und heben Odette in ihrem stilisierten Federrock, werfen sie einander zu, zwingen sie ins Haus hinter der Wand, aus dem sie ausbricht, die Bedrängnisse abschüttelt. In einem Solo von ganzkörperlicher Geschmeidigkeit artikuliert sich Angst, bis die Fantasie eine Lösung bietet: Siegfried erscheint und wird für sie eine reale Gestalt, mit der sie, erster Höhepunkt der Produktion, ein so intensives wie zartes Duett von hypnotischer Kraft tanzt, reich an Bodenakrobatik, die nirgends zu Selbstzweck gerät und im Kuss endet. Behutsam trägt Siegfried die Bedrohte auf den Füßen mit sich.

Die Umwelt gönnt Odette den erträumten Frieden nicht, formiert sich als Reihe schlängelnd zu einer multiplen Persönlichkeit, drängt sie in die Anstalt zurück. Wie eine Halluzination tönt Tschaikowskis Odile-Motiv – als Alter ego oder gefühlte Gefahr tritt der schwarze Schwan auf. Odette lehnt deren buhlerische Annäherung in einem artistischen Kampfduett ab, bis Odile sie in den Arm beißt. Da wirft Odette ihr den Bolero zu, gewendet wird er zum schwarzen Federkleid. Spiegelbildlich läuft das Duett weiter, die Umarmung empfindet Odette als Einengung, und auch das sich drehende Haus steht für eine irrwitzig sich verändernde Welt. Die Verwirrnis komplettiert die Verwandlung Odiles in einen Mann, der Siegfried imitiert. Souverän besiegt er in einem virtuosen Duett Odettes Widerstand und befiehlt Kreaturen herbei. Diese seine Macht beeindruckt Odette, zumal er über ganz heutige Magie gebietet: interaktive Videotechnik, die auf jede Bewegung verzögernd und vervielfachend reagiert. Odettes Sehnsucht stillt das nicht, bis ihre Fantasie den echten Siegfried imaginiert. Da greift der Magier gebieterisch zu einem letzten Trick: Er lässt Odette zusehen, wie Siegfried mit Odile tanzt – jenes Duett, das rechtens Odette gehört!

Dabei beobachtet Odile immer wieder, ob die Täuschung bei der Konkurrentin wirkt. Der falsche Siegfried hat sein Werk der Totalverwirrung getan, Odette rast zwischen die Tanzenden, will sie trennen und ist doch nur noch Marionette der eigenen Phantasmagorie. Weiße Bänder halten sie gefesselt, Gespenster bewegen sie, bestimmen den Bewegungsradius, der Odette nurmehr bleibt. Als die Bänder reißen, hängen sie an dem Mädchen wie zerschlissene Flügel. Siegfried nimmt sie ihr ab, trägt sie wieder auf seinen Füßen, fasst sie bei der Hand und geht mit ihr ab: zurück in die Anstalt oder fiktiv in eine gemeinsame Zukunft? Der Magier wirft Federn auf die Szene, die Drehwände schließen sich – kein gutes Omen für Odette.

Gundula Peuthert ist mit diesem Fieberexzess der Wegsuche aus einer schier ausweglosen Situation nicht bloß eine spannende Version in der „Schwanensee“-Nachfolge gelungen, sondern auch ihre bisher überzeugendste Inszenierung. Nahezu alle Aussagen kleidet sie in zeitgenössischen Tanz von imposanter Dichte und Erfindungskraft, ordnet den Figuren Motive zu und kreiert für sie komplett unterschiedliche Duette von Wiedererkennungswert. Selten sieht man psychische Vorgänge in derart stringent sich steigerndem Taumel bis zur Katastrophe. An diesem Abend stimmt alles: das Weiß und Schwarz der Szene, ob bei Heike Mirbachs beklemmend komplexem Haus oder den Kostümen von Nicole Lorenz; in Marc Lingks bisweilen adagiohafter Musik und Marcus Dörings Videoanteilen. Zuvörderst ist „Schwanenseele“ der Abend einer Tänzerin: Greta Datos technisch wie gestalterisch überragende Odette kommt kaum von der Bühne und leistet Außerordentliches zwischen fragil und selbstbewusst. Als Liebender stützt sie Jason Sabrou, als diabolischer Magier glänzt Niko Ilias König. Ein Bravo dem kleinen Cottbuser Ballett für einen wiederum großen Abend!

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