„Schwanensee“ von Rudolf Nurejew. Tanz: Ensemble

„Schwanensee“ von Rudolf Nurejew. Tanz: Ensemble

Neuanfang an der Pariser Oper

Rudolf Nurejews „Schwanensee“ in neuer Besetzung

Auch wenn diese „Schwanensee“-Reihe einen gewissen Mangel an männlichem Nachwuchs an der Pariser Oper offensichtlich macht, so zeigt sie gleichzeitig die beständig hohe Qualität des Corps de Ballet und enthüllt einen aufgehenden Stern am Balletthimmel.

Paris, 20/12/2022

Das Ballett der Pariser Oper hat einen neuen Direktor – das ist eine sehr gute Nachricht, zumal es sich bei ihm um den ehemaligen Danseur Étoile José Martinez handelt, der bereits das Spanische Nationalballett leitete und über erstklassige Voraussetzungen verfügt, um das durch Rentenstreiks, Coronakrise und Direktionsprobleme geschüttelte Pariser Ballett in eine neue Ära zu führen. Martinez trat seine Stelle vor einigen Tagen an, kurz vor Beginn der weihnachtlichen Aufführungsserie von „Schwanensee“, die ahnen ließ, dass seine Aufgabe nicht ganz einfach zu werden verspricht.

So gelang es dieses Jahr nur mit Mühe und Not, die männliche Hauptrolle zu besetzen: Hugo Marchand und Mathieu Ganio, die einen Großteil der überschweren Last der Mayerling-Erstaufführung auf den Schultern trugen (siehe tanznetz vom 07.11.2022), mussten verletzungsbedingt absagen. Mathias Heymann ist schon seit geraumer Zeit spurlos von der Bühne verschwunden, Germain Louvet tanzt lieber „Kontakthof“ im Palais Garnier und François Alu trat unmittelbar nach seiner Ernennung zum Danseur Étoile von seinem Posten zurück. So blieb unter den Ersten Solisten nur Paul Marque übrig, der zusammen mit einigen mehr oder weniger für die Rolle geeigneten Solisten und einem frisch ernannten Halbsolisten den von Nurejew stark aufgewerteten Part des Prinzen Siegfried bestreiten musste.

Nurejews melancholischer Prinz ist von John Crankos Siegfried inspiriert: Cranko verlieh dem vormals stereotypen Balletthelden individuelle Züge. Nurejew entwickelte die Rolle weiter, indem er sein Ballett zu einem Psychodrama machte, das sich ganz um das homoerotisch angehauchte Verhältnis des Prinzen zu seinem dunklen alter ego Wolfgang/Rothbart dreht. Letzterer wird ein Star der Produktion und schickt am Ende seinen ehemaligen Schützling genüsslich in den Tod – auch dieses Ende erinnert an Cranko, der einst die üblichen Schlussapotheosen und Siege über das Böse durch ein tragisches Ende ersetzte.

Seit Benjamin Millepieds Direktionszeit ist es nun auch in Paris üblich, erfahrene Étoiles zuweilen zusammen mit jungen Tänzern in den Hauptrollen auftreten zu lassen. Dieses Mal war die Kombination von Dorothée Gilbert mit dem sehr jungen, noch nicht einmal offiziell zum Halbsolisten ernannten Guillaume Diop allerdings der Not und dem Ausfall von Hugo Marchand geschuldet, und ergab ein allzu ungleiches Paar. Dorothée Gilbert ist eine große Meisterin ihrer Kunst, mit felsenfester Technik, endlosen Balancen und mühelosen Pirouetten und schönen Ports de bras, doch wirkt sie vor allem im zweiten und vierten Akt zu dominant und selbstbeherrscht für ihren höchst grazilen, scheuen Prinzen. Im dritten Akt ist das Kräfteverhältnis stimmiger: Siegfried hat gegen die geballte Perfidie der schillernden, kraftvollen Odile und ihres charismatischen Vaters Rothbart keine Chance. Pablo Legasa als Rothbart zeigt im Pas de deux die Fäden, mit denen Odile den Prinzen umgarnt, und absolviert ehrenhaft die undankbare, an ronds de jambe und doppelten double tours en l’air reiche Variation, die Nurejew dem bösen Zauberer auferlegt hat. In den Duos mit Siegfried zeigt er sich überlegen und hat seinen Zögling vollkommen in der Hand.

Dies soll keinesfalls bedeuten, dass der überaus jugendlich wirkende Guillaume Diop schwach und seiner Rolle nicht gewachsen ist. Im Gegenteil: er ist ein außergewöhnlicher Siegfried, der so elegant, lyrisch und poetisch wirkt, dass er wie die Schwäne einer anderen Welt anzugehören scheint. Trotz seiner schlanken, langgliedrigen Statur tanzt er kraftvoll und energiereich, mit sehr sicheren Pirouetten und eindrucksvoll hohen, weiten Sprüngen. Seine höchst elegante Linie und die Fähigkeit, in Sprüngen das vordere Bein weit über die Horizontale in die Höhe zu werfen, erinnern zuweilen an José Martinez. Auch ist er ein aufmerksamer Partner, der seiner Odette/ Odile selbstlos und hingebungsvoll zur Seite steht. Gewiss muss er noch an der Ausdauer arbeiten – vor allem Siegfrieds langsame Variation, die Nurejew im ersten Akt hinzufügt, und die zusätzliche Variation im zweiten Akt sind noch nicht auf dem Niveau, das er zu erreichen in der Lage ist – doch ist jetzt schon sicher, dass er sich mit geduldiger Arbeit und Unterstützung der Direktion zu einem großen Interpreten der Klassiker entwickeln wird.

Das Corps de Ballet zeigt sich in erfreulicher Form, was bei der sehr überschaubaren Zahl an Klassikern, die es in den letzten Jahren tanzte, nicht selbstverständlich ist. Dies gilt vor allem für das weibliche Ensemble in den Akten am See und die sehr gut besetzten großen und kleinen Schwäne. In den Akten bei Hof hingegen sind abermals einige männliche Rollen unterbesetzt: so hat der frisch ernannte Premier Danseur Antoine Kirscher mit dem Pas de trois alle Hände voll zu tun, und nur Aubane Philibert gelingt es, in der ersten Variation des Pas de trois einen Eindruck von Leichtigkeit und Freude zu erwecken. Das Orchester unter dem Dirigierstab von Vello Pähn wird Tschaikowskys Partitur gerecht, obgleich diese an vielen Stellen von Hustenanfällen übertönt wird – man wünscht sich, das Publikum mache einen etwas weniger schamlosen Gebrauch von seinem wiedererlangten Recht zu husten.

Auch wenn diese „Schwanensee“-Reihe einen gewissen Mangel an männlichem Nachwuchs an der Pariser Oper offensichtlich macht, so zeigt sie gleichzeitig die beständig hohe Qualität des Corps de Ballet und enthüllt einen aufgehenden Stern am Balletthimmel: mit Guillaume Diop hat José Martinez einen Trumpf in der Hand, der im Lauf der nächsten Jahre hoffentlich die Gelegenheit haben wird, seine tänzerischen und darstellerischen Fähigkeiten zu entwickeln. Man ist gespannt auf die weiteren im Corps de Ballet versteckten Talente, die sich nach diesem vielversprechenden Neubeginn offenbaren werden.

Besuchte Vorstellung: 19.12.2022
www.operadeparis.fr
 

Kommentare


Guten Tag !

Als Tanzhistorikerin möchte ich eine Präzision anführen. Sie schreiben :

"Seit Benjamin Millepieds Direktionszeit ist es nun auch in Paris üblich, erfahrene Étoiles zuweilen zusammen mit jungen Tänzern in den Hauptrollen auftreten zu lassen."

 

In der Tat war es Nurejew, der angefangen hat,  als er Ballettdirektor bei Pariser Oper war (1983-1989), jungen Tänzern im Corps de Ballet Hauptrollen zu geben und mit erfahrenen Etoiles zu tanzen. Seitem wurde diese Tradition von allen Balletdirektoren weiterentwickelt.

 


Guten Tag!

Vielen Dank für Ihre Nachricht und verzeihen Sie die späte Antwort (ich habe den Kommentar gerade erst gesehen). Es kann gut sein, dass Nurejew eine solche Tradition eingeführt hat, aber dann wurde sie wohl von Brigitte Lefèvre wieder „ausgeführt“ – ich kann mich in ihrer zwanzigjährigen Direktionszeit an kein Beispiel erinnern, das mit dem Fall Gilbert-Diop (der bereits als Quadrille an der Seite von Étoiles Hauptrollen in Nurejew-Balletten tanzte) vergleichbar wäre. Oder auch mit der Partnerschaft zwischen Dorothée Gilbert und Hugo Marchand, die 2015 begann, als sie schon lange Étoile und er noch Coryphée war – Lefèvre hielt deutlich mehr als Millepied von der strengen Hierarchie in der Kompanie. Am nächsten käme dieser Konstellation in meinem Gedächtnis die „Notlösung“ Agnès Letestu-Mathieu Ganio in „Don Quichotte“ im Jahr 2004, und er wurde nach der Vorstellung direkt zum Danseur Étoile ernannt. Vielleicht ist mir etwas entgangen?

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