Siegfried und seine Doppelgänger

Rudolf Nurejews „Schwanensee“ an der Pariser Oper

Paris, 19/12/2010

Es ist wenig erstaunlich, dass gerade „Schwanensee“, das weibliche Ballett par excellence mit seinen beiden actes blancs und seinem unscheinbar-tölpelhaften Prinzen, wiederholt Anlass zu neuen Interpretationen gab, in denen die männlichen Tänzer verstärkt zur Geltung kommen. Von John Neumeier bis Matthew Bourne inspirierte der Mythos des Prinzen, der einem verzauberten Schwan ewige Treue schwört, mehrere Choreografen zu Versionen, in deren Mittelpunkt die Psyche des Prinzen stand.

Nurejew konzipierte seine psychoanalytische Fassung für die Pariser Oper aus dem Jahr 1984 als alptraumhafte Vision Siegfrieds, der zu Beginn des Stückes auf seinem Thron schlummert. Das mag das freudlose und beklemmende Bühnenbild erklären, das so gar nicht zu Nurejews Liebe für prachtvolle Ausstattungen passen will; etwas aufgeheitert wird die schwere Atmosphäre durch Franca Squarciapinos geschmackvolle pastellfarbene Kostüme. Wie in seinem „Nussknacker“ bezieht sich Nurejew in seiner „Schwanensee“-Fassung auf Freud, ohne sich in der Gesamtstruktur zu weit von Petipa zu entfernen: seine Schwäne sind weiterhin Frauen und sein Prinz bleibt der Siegfried der Legende. Neu ist hingegen, dass die Männerrollen tänzerisch stärker ausstaffiert werden und dass das ganze Ballett von Spiegelungen und Doppelgängerfiguren durchzogen ist. Gegenüber Nurejews männlichen Doppelungen verliert die eigentlich zentrale weibliche Doppelfigur Odette-Odile ziemlich an Bedeutung. Sie wird wie Siegfried zum Spielzeug der Doppelfigur Rothbart/ Wolfgang (ursprünglich Siegfrieds harmloser Hauslehrer), der in Nurejews Version alle Fäden des Geschehens in der Hand hält. Nicht nur, dass er Odette in seiner Gewalt hat, sondern er lenkt Odile in jedem Moment ihres Verführungs-Pas de deux wie eine Marionette. Auch Siegfried wird von ihm geschickt manipuliert, bis dieser Wolfgangs/ Rothbarts Bewegungen imitiert und damit selbst zu dessen Doppelgänger wird. Auf deren Pas de deux folgt der Walzer am Ende des ersten Aktes, in dem die gemischten Paare durch männliche Tänzer ersetzt wurden, die einander an den Händen halten. Nur in den weißen Akten regiert noch das weibliche Corps de Ballet mit beispielhafter Symmetrie und Synchronität – so dass auch hier jeder Schwan die Bewegungen seines Nachbarn reflektiert, und die Spiegelungen werden theoretisch im See ins Unendliche weitergespiegelt.

In dieser Männerwelt hat es Laetitia Pujol als Schwanenkönigin nicht leicht, sich tänzerisch durchzusetzen. Doch feierte die „Pirouettenkönigin“, die seit langer Zeit verletzungsbedingt nicht auf der Bühne zu sehen war, an diesem Abend ein gelungenes Comeback und beeindruckte vor allem eine Serie wunderbar sicherer und musikalischer Fouettés im 3. Akt. Benjamin Pech als Wolfgang/ Rothbart fehlte es nicht an mal scheinheilig-hinterhältiger, mal triumphaler Bösartigkeit und er machte in seiner von Nurejew hinzugefügten Variation im 3. Akt eine gute Figur. Sein gewalttätig-selbstverliebtes Gebaren bot einen idealen Kontrast zu Mathieu Ganio als hingebungsvollem und naivem Prinzen, der sich von Rothbart allzu leicht verunsichern und manipulieren lässt. Auch tänzerisch kontrastieren Ganios eleganter, leichter und großzügiger Stil, mit dem er Nurejews anspruchsvolle Variationen buchstäblich überfliegt, mit Pechs Abruptheit, die an einen mit den Flügeln schlagenden und auf seine Beute hinabstürzenden Raubvogel denken lässt. Doch ist es am Ende Siegfried, der zu Boden fällt und Rothbart, der sich zusammen mit der auf ewig verzauberten Odette machtvoll in die Lüfte erhebt. Und so verliert Siegfried schließlich beide Doppelgänger – sowohl Wolfgang/Rothbart als auch seine Seelenschwester Odette, die mit ihrem tyrannischen Meister einer ungewissen Schwanenzukunft entgegenschwebt.

Besuchte Vorstellung: 16.12.10, www.operadeparis.fr

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