„Schwanensee“ von Rudolf Nurejew

„Schwanensee“ von Rudolf Nurejew

Bedrohliche Traumvisionen

Rudolf Nurejews „Schwanensee“ an der Pariser Oper

Ähnlich wie Neumeier ließ sich Nurejew von der Psychoanalyse inspirieren: die Grenze zwischen Wirklichkeit und Vision ist in beiden Fassungen fließend, der homoerotisch-alptraumhafte Wolfgang/ Rothbart erinnert an den Mann im Schatten.

Paris, 19/12/2016

Ein Jahr, nachdem Rudolf Nurejew 1963 in Stuttgart in John Crankos „Schwanensee“ gastierte, schuf er in Wien seine erste Fassung des Balletts. Zwei Jahrzehnte später ersetzte Nurejew, inzwischen Direktor des Balletts der Pariser Oper, Vladimir Burmeisters Fassung durch seine eigene Version (ebenso, wie er Crankos „Romeo und Julia“ im Repertoire der Pariser Oper durch seine eigene Choreografie austauschte). Laut Pariser Programmheft inspirierte die Stuttgarter Fassung Nurejew, besonders die Rolle des Prinzen, der bei Cranko an Bedeutung und Menschlichkeit gewinnt. Gewiss fühlt man sich bei Nurejews Pariser Fassung zuweilen an Cranko erinnert, beispielsweise am Schluss, wenn Odette und Siegfried immer wieder entkräftet niedersinken. Auch das tragische Ende ähnelt Crankos Schluss: bei Nurejew sieht man den Prinzen in den Fluten verschwinden, während Rothbart und die auf ewig verwandelte Odette von dannen fliegen. Andere Elemente in Nurejews Ballett weisen Parallelen zu John Neumeiers „Illusionen – wie Schwanensee“ (1976) auf. Ähnlich wie Neumeier ließ sich Nurejew von der Psychoanalyse inspirieren: die Grenze zwischen Wirklichkeit und Traum- oder Wahnvision ist in beiden Fassungen fließend, und Nurejews mysteriöser, homoerotisch-alptraumhafter Wolfgang/Rothbart erinnert an Neumeiers Doppelgängerfigur, den Mann im Schatten.

Dennoch unterscheidet sich Nurejew in grundsätzlicher Weise von den beiden genannten Choreografen. Anders als Crankos Siegfried, der sich unters Volk mischt und sich als Wahrsagerin verkleidet, ist Nurejews Prinz ganz und gar Aristokrat. Dem Choreografen kommt es weniger darauf an, den Prinzen zum Individuum zu machen – wie Nurejews „Dornröschen“-Prinz entspricht hier dem Typus des adligen, melancholischen Träumers – sondern darauf, seine Rolle tänzerisch auszugestalten. Mag er auch immer wieder auf der Bühne zusammensinken und -brechen, so tut er es doch stets mit der vollendeten Grazie des erschöpften Ballettprinzen. Nurejew geht es in bester russischer Tradition weniger um die Darstellung berührender Schicksale als um den möglichst virtuosen Tanz. Andererseits führte er einige pantomimische Passagen wieder ein, derer sich das sowjetische Ballett entledigt hatte und die trotz ihrer Unverständlichkeit für das breitere Publikum durchaus ihren Reiz haben. Andere Kuriositäten, beispielsweise das bedrohliche gebückte Schreiten einiger wie Vogelscheuchen gewandeter Höflinge im ersten Akt, lassen sich schwerer erklären.

Nurejews Betonung des männlichen Tanzes beschränkt sich nicht auf den Prinzen: mit Wolfgang/ Rothbart, der vor allem im dritten Akt tänzerisch sehr zur Geltung kommt, schuf er eine zweite männliche Hauptrolle. Auch im Corps de Ballet versuchte der Choreograf, die ausschließlich weiblichen Ensembleszenen des zweiten und vierten Aktes durch einige rein männliche Szenen auszugleichen. Dadurch verstärkt er unter anderem die homoerotische Atmosphäre des Balletts: so wird beispielsweise der Pas de deux zwischen Siegfried und Wolfgang von einem Tableau immobiler männlicher Tänzer umrahmt. Der Bechertanz (hier ohne Becher und Partnerinnen) wird ebenfalls von Jünglingen bestritten. Nurejew schmückte die Passage neben den für ihn typischen 'ronds de jambe' auch mit einigen 'ronds de main', die ihr Echo in den flatternd rotierenden Händen der weiblichen Schwäne in den ‚weißen’ Akten finden. Anders als die Schwäne formieren sich Nurejews junge Männer allerdings zu Paaren, die sich bei den Händen halten und gegenseitig heben. Sowohl Wolfgang als auch Rothbart – beide Rollen wurden von Karl Paquette interpretiert – heben außerdem den Prinzen in zwei parallelen Szenen, welche die Macht des dunklen Alter Egos über den strahlenden Siegfried zeigen.

Mathias Heymann füllte die anspruchsvolle Prinzenrolle mit eigenen Nuancen, indem er seinen Tanz durch Tempowechsel akzentuierte und besonders lebendig gestaltete. Zusammen mit Myriam Ould-Braham bildet er derzeit eines der Traumpaare des klassischen Tanzes, da die beiden sowohl physisch als auch in Technik und Temperament harmonieren. Beide glänzten neben ihrer französisch-präzisen Fußarbeit auch durch Qualitäten, die eher in der russischen Schule angesiedelt sind, vor allem Epaulement und Geschmeidigkeit des Oberkörpers und der Arme. Die exquisite Myriam Ould-Braham zieht alle Blicke auf sich, sobald sie mit ondulierenden Bewegungen mehr auf die Bühne zu schwimmen als zu treten scheint, und ihre Odette ist wahrlich ein Wesen von einer anderen Welt, zerbrechlich, ungreifbar und geradezu schwerelos. Man freut sich schon auf ihre Sylphide am Ende der Spielzeit, eine Rolle, die wie für sie geschaffen ist.

Das Corps de Ballet glänzte – trotz der Erschöpfung angesichts der großen Zahl an Vorstellungen am Jahresende – durch klare Linien und Synchronität, besonders eindrucksvoll beim Tanz der kleinen Schwäne. So zeigte die Kompanie unter ihrer neuen Direktorin Aurélie Dupont sich in hervorragender Form, und man sieht der Zukunft der dieses Jahr zeitweise sehr durcheinandergeschüttelten Kompanie mit Zuversicht entgegen.
 

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