Neuanfang an der Pariser Oper
Rudolf Nurejews „Schwanensee“ in neuer Besetzung
Im derzeit von der Mini-Revolution heimgesuchten Paris nimmt es nicht wunder, wenn auch Prinz Siegfried in der regelmäßig von Demonstranten umringten Opéra Bastille sein hartes Schicksal nicht mehr einfach hinnehmen will. Allerdings hat er trotz erbittertem Widerstand keine Chance gegen die magischen Kräfte seines Gegners Rothbart. Schließlich handelt es sich nicht um eine sowjetische Fassung wie die von Konstantin Sergejew (heute im Repertoire des Mariinsky-Balletts), in der der Prinz die Macht des Bösen im Zweikampf unterwirft und mit seiner geretteten Geliebten einer rosigen Zukunft entgegen schreitet. In Paris erliegt Siegfried den Folgen seines unabsichtlichen Verrats, ähnlich wie in Crankos Stuttgarter Fassung, die Nurejew inspirierte, unter anderem durch Crankos Interesse an der Psychologie der männlichen Hauptfigur.
Angesichts der beachtlichen Energie, die Hugo Marchand als Siegfried entwickelte, um sein Leben und seinen Traum zu retten – er flog mit explosiven Grands jetés über die Bühne, sichtbar entsetzt von der Erkenntnis, dass niemand anderer als sein vertrauter Tutor Wolfgang alias Rothbart ihn verraten hat – hätte man ihm allerdings einen substantielleren Gegenspieler gewünscht. Thomas Docquir als Wolfgang/ Rothbart blickt zwar schon von Anfang an sehr ominös drein und lauert auf jede Bewegung des Prinzen, dessen Engelsmiene nie von einem Schatten des Misstrauens getrübt wird. Allerdings zeigt sich schon bei seinem kurzen Pas de deux mit Marchand im ersten Akt, und schließlich noch deutlicher beim schwarzen Schwan-Pas de deux mit dem von Nurejew eingefügten Rothbart-Solo im dritten Akt, dass der vielversprechende Corps de ballet-Tänzer seiner Rolle noch nicht ganz gewachsen ist. Seine Autorität über Siegfried (warum sollte er einen Tutor haben, der sichtbar jünger ist als er selbst?) ist kaum zu erklären, und die tückische Nurejew-Choreografie noch nicht ganz in den Beinen.
Dorothée Gilbert und Hugo Marchand sind inzwischen ein eingespieltes Team – erstmals waren sie 2013 zusammen in Kenneth MacMillans „Manon“ zu sehen, als Marchand, damals noch im Corps de ballet, eine einzige spektakuläre Vorstellung an der Seite der langjährigen Étoile geben durfte. Und wenn diese beiden Étoiles in den Hauptrollen eines Klassikers besetzt sind (Marchand hat inzwischen auch den Prix Benois gewonnen), kann man damit rechnen, dass nicht nur die bei Nurejew unumgänglichen Ronds de jambe gekonnt in die Luft gezeichnet werden, sondern auch eine Geschichte erzählt wird.
Gilbert ist eine Odette/ Odile auf höchstem Pariser Niveau, wobei ihr der zackigere, virtuose Stil der Verführerin Odile noch etwas besser liegt als der weiche, hingebungsvolle Stil Odettes. Als Odile hat sie ihr naives Opfer völlig unter Kontrolle, brilliert mit souveränen Balancen und glänzenden Tours en attitude. Schauspielerisch besonders gelungen ist die Falschheit, mit der sie ihre Liebe zu Siegfried bekundet, so dass dessen Mutter nur besorgt auf ihren fehlgeleiteten Sohn blicken kann.
Der sehr hochgewachsene, athletische Marchand, der als Siegfried buchstäblich seine Umgebung überragt, überzeugt durch die Weite und Leichtigkeit seines Tanzes – obgleich bei seiner Statur der Kampf mit den Nurejewschen Übermaß an Schritten und den leidigen Richtungswechseln nicht immer leicht fallen kann – sowie durch seine elegante Linie und ports de bras. Zugleich versucht er, seiner Rolle dramatische Substanz zu verleihen – er schwankt zwischen argloser Hingabe und Rebellion, zunächst gegen seine Mutter, die ihn zur Heirat zwingen will (wer möchte übrigens glauben, dass es sich die Prinzessinnen aus aller Herren Länder gefallen ließen, im haargenau gleichen Kostüm Arm in Arm und synchron dem Prinzen etwas vorzutanzen, wobei sie auf recht unziemliche Weise unter seiner Nase die Beine in die Luft werfen?), dann gegen Rothbart, der ihn schließlich verächtlich zu Boden wirft. Dennoch gelingt es dem Prinzen, der trotz allen Leidens distanziert bleibt und dessen tänzerische Herausforderungen die schauspielerischen weit übersteigen, nur bedingt, Mitleid für sein Schicksal zu erwecken.
Das Corps de ballet zeigte sich in dieser Vorstellung zu Beginn einer langen Serie frisch und glänzte durch die dem Pariser Ensemble eigene Synchronität. Kein Wunder, dass die Vorstellungsreihe seit geraumer Zeit restlos ausverkauft ist – ein weiterer kleiner „Sturm auf die Bastille“ des Publikums, um einen Blick auf den einzigen Klassiker der Saison zu erhaschen (wenn man Nurejews schwer verdauliche „Cinderella“ im Dezember nicht mitzählen will). Man darf gespannt sein, ob die nächste Spielzeit, die bald angekündigt wird, der oft bekundeten Absicht der Direktion, die französisch(-russische) Tradition zu bewahren, gerechter wird.
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