Psychologisch aufgeladenes Lebensmärchen
Rudolf Nurejews „Nussknacker” wieder in Paris
Paris zeigt Rudolf Nurejews psychologisierenden „Schwanensee“ in packenden Figuren und exzellenter Besetzung.
In Paris wird Rudolf Nurejews Erbe wieder mit besonderer Hingabe gepflegt. Die Produktionen, die der einstige Direktor des Pariser Opernballetts hinterlassen hat, stehen nicht nur regelmäßig, sondern in der Saison seines 30-jährigen Todestags auch geballt auf dem Spielplan des jetzigen Leiters José Martinez. Nach „Nussknacker“ und „Don Quichotte“ beendete jetzt sein wegweisender „Schwanensee“ – parallel zu Pina Bauschs „Blaubart“ – die Spielzeit. Nächsten März kommt dann wieder sein „Dornröschen“. Auch eine Ausstellung im Museum des Palais Garnier hat es gegeben, die Nurejew als Tänzer, Choreografen, Ballettdirektor und Ikone würdigte, dabei allerdings seine Lieben, seine Freundschaften, seine Psyche merkwürdig diskret behandelte.
In seinen Stücken ist seine Homosexualität oft genug gut lesbar, wird die Psychologie unter Beibehaltung, aber spannender Umarbeitung der klassischen Formen zum Antrieb seiner Choreografie. Sicher am stärksten im „Schwanensee“, dem Ezio Frigerio einen strengen Rahmen gebaut hat. Schlank aufstrebende Säulen, graue Wandflächen, die zuweilen den Blick auf eine diffuse Ferne am See zulassen, im Traum auch freigeben, inspiriert von einer nebulös leuchtenden Abendstimmung Monets. Die moderne Bastille-Oper gibt dem sozusagen noch einen zweiten Rahmen, wodurch hier trotz Trikothosen und Tutus eine fast existentialistische Stimmung geschaffen wird.
Siegfried in Isolation
Denn dieser Prinz ist viel allein. Wirkt verloren in seinem Sessel auf der weiten leeren Bühne in diesem nüchternen, fast hermetischen Saal. Siegfried muss sich auch gefangen fühlen unter dem Druck eines Regimes, das ihn unbedingt verheiraten will. Und Nurejew kannte aus seiner UdSSR-Zeit dieses Gefühl des Fremdseins, der Beobachtung, der Gefangenheit. Frei war er nur im Tanz und im Träumen.
Und so wird das ganze Ballett eigentlich ein langer Traum Siegfrieds, ausgelöst womöglich durch die Märchenerzählungen seines Erziehers Wolfgang, der ihm so einen Ausweg aufzeigt, aber auch die Konfrontation mit seinen dunklen Gefühlen, Erotik und Sexualität auslöst. Insofern ist Wolfgang auch ein „Zauberer“ und wird von Nurejew mit demselben Tänzer besetzt, der in den Träumen der Zauberer Rothbart ist. Wolfgangs lenkende Gesten mit vielen Berührungen am Rande der Übergriffigkeit sind erotisch aufgeladen, wenn sie auch immer gerade noch so rechtzeitig bremsen. Es gab wohl auch solche Rothbart-Figuren in Nurejews sowjetischen Ballettanfängen.
Noch zur Ouvertüre, Siegfried träumt in seinem Stuhl, sieht man, wie Odette durch die Halle huscht, dann vom Zauberer geschnappt wird und beide als Schwan und Raubvogel über dem See auffliegen. Das Bild wird sich ganz am Ende wiederholen, denn das Traumgespinst muss verfliegen, damit Siegfried zu seinen Gefühlen und Trieben stehen kann, und diese sexuelle Seite seines Wesens hat er zwischenzeitlich in Odile kennengelernt.
Doppelpartie
Beide, die geistig-ätherische wie die körperlich-wollüstige Prinzessin sind insofern Verkörperungen seiner eigenen inneren Disposition, und beide werden ihm durch Wolfgang/Rothbart entdeckt und entzogen, und zwar nicht nur handlungstechnisch, sondern auch ganz konkret im Tanz: Wenn Rothbart ihm im dritten Akt die erotisierte Odile im schwarzen Tutu zuführt, wird das ein regelrechter Pas de trois, in dem sich der ebenfalls hocherotisch gekleidete, an gewisse Ledermänner erinnernde Zauberer immer wieder selbst zwischen Siegfried und Odile drängt, sie ihm einerseits süffisant lächelnd überlässt, dann wieder abrupt wegnimmt, mal beide Männer an den Händen Odiles hängen, mal aber wiederum Rothbart ihre Position einnimmt, Siegfried also nur über ihn mit Odile verbunden ist, sozusagen der wahrhaft Begehrte die phantasierte Figur ersetzt. Pablo Legasa ist dafür die ideale Besetzung, verführerisch dämonisch in seinem herausfordernden Lächeln und seinen durchgestreckten, immer wieder abrupten, erotikgeladenen Bewegungen. Und Nurejew gibt ihm auch ein entsprechend zündendes Solo mit Drehsprüngen und Jetés.
Die spannungsgeladene Dreierkonstellation wiederholt sich dann ähnlich im letzten Akt. Die weißen Schwäne säumen Siegfrieds Fluchtweg zurück in den weißen Traum wie eine Totenprozession. Fantastisch wie schon im zweiten Akt diese absolute Synchronität der Pariser Damenkompanie, diese fast abstrakte Architektur der Gliedmaßen und der passgenau rhythmisierten Bewegungen im Zusammenlaufen des S-Labyrinths. Siegfried und Odette treffen sich hier und streben sogleich, sich am langen Arm erfassend, voneinander weg. Als sie doch noch in seine Arme fällt, durchläuft sie leises Zittern, es ist eine Angst, ein Abschied, keine Liebe, was hier bebt.
Sae-Eun Park ist eine ätherisch-zarte Odette, so recht ein Wesen aus Luft und Phantasie, deren lange, sich flexibel windende Arme sofort berühren und bezaubern. Ihre Spitze trippelt so zart, dass tatsächlich eine schwebende Bewegung entsteht. Und als Odile wirkt sie drahtig, energisch, die pure Dynamik, gleich mit zahlreichen Doppeldrehungen in ihre Fouettés startend. Vielleicht auch hier weniger körperlich, sondern wie eine abstrakte Energie, die sich funkensprühend entfaltet. Grandios.
Sexualisiertes Ich
Aber auch im letzten Akt ist Rothbart immer mit dabei, erneuter Pas de trois, erneut ziehen die beiden Männer zu beiden Seiten an den Händen der Tänzerin. Noch stärker wird es ein Männer-Pas-de-deux, ringt Siegfried nun mit dem sexualisierten Teil seines Ichs, wird er von diesem mal weggeschleudert, mal im Arm aufgefangen. Spannenderweise kehren dabei die Bewegungen aus dem Pas de deux mit Wolfgang aus dem ersten Akt wieder, haben aber diesmal gänzlich ihre Unschuld verloren. Wie Odette/Odile sind auch Siegfried/Rothbart zwei Selbstausfaltungen.
Am Ende entschweben die Traumfiguren, aber im Gegensatz zu den Schwanenprinzessinnen hat Rothbart eine physische Realität in Wolfgang. Nurejew lässt den Erzieher am Ende nicht wieder auftreten, Siegfried bleibt allein im Nebel zurück, ein Männer-Happyend war zu Tschaikowskys wie zu Nurejews Zeiten nicht denkbar.
Aber es ist bloß der Traum, der vorüber ist, Siegfried kann aufwachen, geläutert, aufgeklärt. Gezeigt wird das nicht mehr, und so ist es auch nicht ganz einfach für den Siegfried-Tänzer, seine Entwicklung sichtbar werden zu lassen, etwa, inwieweit er die Körperlichkeit Rothbarts annimmt.
Die „kumpelige“ Leichtigkeit seiner Freunde, die in der Polonaise des ersten Akts von Nurejew in reinen Männer-Paaren inszeniert wird, hat der Prinz eben nicht. Und die konventionelle Pracht der Ländertänze, die in Paris herzlich-frisch gegeben werden, ist schon gar nicht seins. Paul Marque bleibt ganz der Träumer, der sich naiv in den Schwanenparcours des zweiten Akts verläuft, durchaus Zutraulichkeit zu Wolfgang erkennen lässt, aber mehr von Rothbarts Feuer fasziniert sein könnte. Sein Solo besteht passend zu einem Gutteil aus Pirouetten, eine Frauenfigur, und eine, die sich nur um sich selber dreht und nicht aus sich herausfindet. So läuft Marque dann groß auf in der Verzweiflung des letzten Akts, ein sympathischer Kämpfer auf der Suche nach sich selbst.
Nurejews Erbe wird in Paris derzeit sehr aufmerksam gepflegt, seine psychologisierende Auffassung ist Tschaikowsky allemal näher als der falsche romantische Heroismus anderer Fassungen mit dem Märchen-Happyend.
Es wäre übrigens schön, wenn die schon existierenden Aufnahmen des Nurejew-Repertoires wieder publiziert würden. Die aktuelle Produktion kommt ab dem 8. November via IMAX in die Kinos.
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