Psychologisch aufgeladenes Lebensmärchen

Rudolf Nurejews „Nussknacker” wieder in Paris

Nurejews Choreografie leuchtet in die schattigen Ecken der Gesellschaft und thematisiert die gespaltenen Gefühle einer Heranwachsenden.

Paris, 23/12/2023

Eine düstere Weihnachtsgeschichte erzählt uns Rudolf Nurejew in seiner Choreografie des allbekannten „Nussknackers“. Er selbst erinnert sich eher an Not und bedrückende Gefühle als Kind in dieser Jahreszeit und so hat er die skurrile Hoffmann‘sche Stoffvorlage zu einer Deutung genutzt, die von keinem Christkind oder Weihnachtsfrieden bestrahlt wird, sondern eher ganz tief in die Katakomben des Unterbewusstseins führt. Das sieht in Nicholas Georgiadis‘ Ausstattung zwar immer noch alles sehr prächtig und zauberhaft aus, sodass seine Version auch an der Pariser Oper wieder die Dezember-Vorstellungen an der Bastille füllt. Aber nicht nur bei Konsul Stahlbaums liegt hinter allem üppigen Makart-Glanz viel Schatten, in den Nurejew konsequent hineinleuchtet.

Die Kinder kloppen sich jedenfalls schon vorm Haus, zanken sich auch bei der Puppentheateraufführung, die Pate Drosselmeyer organisiert, und der freche Bruder Fritz reißt den Nussknacker, das Patengeschenk für die hier bereits Heranwachsende Clara, einfach entzwei. Kein Wunder, dass die Bengel in Claras Traum als miese kleine Ratten wiederkehren. Und auch die sexuelle Konnotation ist nicht ausgespart. Sie reißen ihr die Kleider vom Leib, der andrängenden Masse kann sie sich kaum erwehren. 

So wird ihr der Pate, der den Nussknacker repariert und sie immer wieder aus den Fängen der Angreifer befreit, im Traum zum Prinzen, der die großen Pas de deux mit ihr bestreitet. Wie bei Nurejews Rotbart als Erzieher des Prinzen im „Schwanensee“ ist auch diese Beziehung nicht zweifelsfrei. Drosselmeyer ist der, mit dem sie aus den Realitäten zu fliehen lernt, in eine andere Realität, die freilich seinen (womöglich ebenfalls erotischen) Interessen auch sehr entgegenkommt. 

Immerhin begegnen wir diesem Drosselmeyer als hinkendem Eigenbrötler mit Augenbinde, das hat auch eine teuflische Implikation. Er kann zaubern, verwandelt seinen Stock in Blumen, versteht es so, die Kinder zu faszinieren, ihnen aber auch Angst zu machen. Sein Hinken baut er zum Tanz aus, bei dem alle Kinder ihn imitierend mitmachen, so aber auch zu seinen Gefolgsleuten werden. Zieht er nicht auch Clara quasi magisch an, wenn sie ihm rückwärts auf Spitze trippelnd, wie in Trance in den Traum folgt? Um Mitternacht sitzt er auf der schlagenden Uhr, wird so zum Zeremonienmeister für Claras zwielichtige Träume zwischen sexuellem Erwachen und Bedrängnis, Lust- und Schuldgefühlen, kindlichen Märchenvisionen und romantischen Ahnungen. Und ebenso zwielichtig ist dieser Drosselmeyer eben auch.

Eine hoch anspruchsvolle Rolle, bedarf es doch eines Charakterdarstellers, der nachher trotzdem seinen Prinzen stehen muss. Nurejew war mit seinem markanten Gesicht ein großartiger Interpret, zumal im Alter, selbst als ihm die Runde Grands jetés schon Mühe machte. Matthieu Ganio weiß das Skurrile gut zu bedienen und ist dann einfach eine Offenbarung als Traumprinz, die nicht nur Claras Augen strahlen lässt. Paul Marque macht in der aktuellen Serie gut Effekt als immer wieder bedrohlich dazwischenflatternder Zauberer, und er ist eine sichere Stütze in Claras Träumen, sie etwa nach dem Pas de deux auf einem Bein stehend sich auf den waagerecht geneigten Körper ladend. Solistisch macht er mit Drehsprüngen und Entrechats, ausgeweitet zu einer Batterie in alle Richtungen, Eindruck. In manchem hinkenden Teufel mag also ein erotisches Energiebündel stecken. Zumindest in Claras Fantasie muss der gute Onkel eben auch ein schöner Mann sein.

Spannend, wie sie ein Gutteil ihres am Ende paradehaft aufrauschenden Pas de deux quasi synchron absolvieren, zwei exzentrische Seelen in Harmonie. Claras Inneres darf sich endlich, wenn auch technisch hochkompliziert, entfalten. Auch sie ist eher eine Charakterrolle. Und komplex, weil sich die Facetten ihres Wesens nicht wie bei Odette/Odile klar auf zwei Figuren verteilen, sondern im Stück ständig changieren. Da ist einesteils das junge Mädchen, das sich noch kindlich freut und leidet über ihr eher skurriles als schönes Geschenk, den Nussknacker. Für das sie verteidigend mit Spielsachen um sich wirft. Und dann die erwachende junge Frau, die sich zur Verteidigung stramme junge Zinnsoldaten erträumt, um sich gegen die animalisch-triebliche Seite der Erotik in Gestalt der zudringlichen Ratten zu erwehren. 

Die kommen bei Nurejew in zwei Anläufen, und dazwischen rauschen auch noch die Erwachsenen als Fledermäuse mit Riesenköpfen dazwischen, das personifizierte schlechte Gewissen. Inès Mcintosh ist eine schon recht selbstbewusste Streiterin, im Liebesteil des Traums dann eine sehr beherrschte Prinzessin, die brav an der Hand des Prinzen auf Spitze vorwärts hüpfelt. Das Bild für die erotische Selbstverwirklichung bleibt eben romantisch konfektioniert. Bis zu ihrem Synchronlauf, nach dem sie sich mehrfach gegenseitig die Abschlusspose vertreten, ein Hauch von Ironie? Wer ist denn nun die Diva?

Nurejew baut auch die dunkel gehaltenen Divertissements zuweilen etwas ironisch aus. Etwa durch Einsatz der Familienmitglieder, die in Claras Traum ihrem Charakter gemäße Rollen finden. Der Großvater etwa, der im Arabischen Tanz immer zuerst aus der Schüssel langt und die anderen nach Wohlverhalten füttert. Die Eltern sind im Russischen Tanz dabei und Muttern zeigt im Finale deutlich, dass sie froh ist, das nochmal durchgestanden zu haben. Und der von Chun-Wing Lam passend präpotent gespielte Bruder Fritz findet mit der jüngeren Schwester Luisa im Spanischen Tanz Gelegenheit sein berstendes Temperament zu zeigen. 

Sie alle tauchen aus Nebeln in Claras Fantasien auf, wobei Georgiadis Urängste von Vergänglichkeit und Tod herbeizitiert: Da sind im Hintergrund der wie Eiskristalle funkelnden und entsprechend gestochen scharf choreografierten und getanzten Schneeflocken Engelskulpturen wie auf dem Friedhof zu sehen, und der Blumenwalzer spielt im heruntergekommenen Ballsaal eines womöglich längst ausgestorbenen Schlosses. Es ist ein psychologisch aufgeladenes Lebensmärchen, das Nurejew da entworfen hat. Und, ja, wenn Clara, wiedererwacht und kurz vorm Zubettgehen, nachher nochmal vor die Tür guckt: War da überhaupt was? Ein hinkender Mann stiehlt sich davon, als ob ihn nie jemand eingeladen hatte. 

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