Psychologisch aufgeladenes Lebensmärchen
Rudolf Nurejews „Nussknacker” wieder in Paris
In seinen Memoiren erinnert sich George Balanchine, dass Igor Strawinsky Tschaikowskys Nussknacker besonders liebte, „weil er ohne jegliche schwerfällige Psychologisierung war, weil er einfach ein vergnügliches, verständliches Spektakel war”. Diese Einfachheit und Verständlichkeit ist nicht Rudolf Nurejews Sache: sein 1985 für das Ballett der Pariser Oper geschaffener „Nussknacker” ist von obskuren Freud‘schen Ansätzen durchzogen. Doch auch von Hoffmanns raffinierter mystischer Romantik ist in Nurejews Version, die vorgibt, sich stärker am Original zu orientieren als der durch eine Adaption der Geschichte von Alexandre Dumas inspirierte Petipa, wenig zu spüren.
Nurejew verlegt die Handlung in ein bürgerliches Intérieur um 1900, wo sich am Weihnachtsabend neben der Familie (Eltern, Großeltern und die drei Kinder Clara, Fritz und Luisa) zahlreiche Gäste einfinden. Der erste Akt bleibt recht traditionell, mit grazilen Tänzen für Kinder und ältere Familienmitglieder, gelungenen Soli für Fritz (ein übersprudelnder Alessio Carbone), Luisa (sehr gut besetzt durch Muriel Zusperreguy) und Clara in Puppenkostümen und schließlich einem üppig kostümierten Kampf zwischen Mäusen und berittenen Soldaten. Im zweiten Akt hingegen emanzipiert sich der Choreograf stärker von Petipa und navigiert zwischen verschiedenen Stilen und Interpretationsansätzen, ohne dabei jedoch eine wirklich neue Lektüre des Klassikers zu bieten.
In Nurejews Fassung ist das Stück vom Ende des ersten Aktes bis fast ganz zum Schluss ein Traum Claras, was der Choreograf zum Vorwand nimmt, sich zeitweise wenig um dramaturgische Kohärenz zu kümmern. Die schlafende Clara sieht ihre Familie in verschiedenen Verkleidungen: zuerst als furchterregende Fledermäuse mit riesigen Menschenköpfen; dann plötzlich, wie aus dem Nichts, stürmen spanische Tänzer aus der Kulisse, die niemand anders sind als ihre Schwester Luisa und ihr Bruder Fritz. Darauf folgen die anderen typischen Volkstänze, die größtenteils humoristisch-groteske Züge tragen: die Russen (angeführt von Claras Eltern) stolpern wie betrunken über die Bühne, die Chinesen in gelb-schwarz gepunkteten Kostümen rollen und springen mit konzentriertem Ernst übereinander her; der von Claras Großeltern zelebrierte arabische „Essenstanz” hingegen bleibt dem Nichteingeweihten ein Rätsel. Das Ganze wird gekrönt durch einen goldüberbordenden Ball voller unerwarteter Stilwechsel, in dem die perückengekrönten Damen erst einmal eine ganze Weile wie Schachfiguren in alle Richtungen über die Bühne geschoben werden, bevor sie dann wie im Finale von Balanchines „Symphony in C” die Beine in die Lüfte werfen.
Den Grand Pas de deux tanzt keine Zuckerfee – Petipas „Konfitürenburg” ist aus Nurejews freudianisierender Version verschwunden –, sondern Clara mit ihrem Nussknacker-Prinzen. Dieser ist nicht wie bei Hoffmann der verzauberte Neffe Drosselmeiers, sondern eine verjüngte Version Drosselmeiers selbst. Solisten und Corps de ballet – inzwischen nicht mehr so sehr an Nurejews Stil gewöhnt wie zum Zeitpunkt der Uraufführung – haben es nicht leicht mit der Choreografie, in der Nurejew gewisse Manierismen seines Stils auf die Spitze treibt. Oft hetzen die Tänzer der Choreografie hinterher, in der sich die Richtungswechsel und von Nurejew geliebten Ronds de jambe häufen, manchmal wenig im Einklang mit der Musik. In den Pas de deux sind nicht alle Hebungen ein optischer Genuss – besonders auffällig eine wiederholte „Krötensprunghebung” sowie die Schlusspose des Pas de deux, in der der Prinz recht ungrazil sein hinteres Bein hebt und dabei Clara in die Lüfte stemmt.
Die Kompanie stellt sich all diesen Herausforderungen mit beeindruckender Souveränität. Allen voran glänzt Dorothée Gilbert als Clara mit eiserner Technik und großen Unschuldsaugen. Ihre Variation im zweiten Akt, eine der schönsten des Stückes, tanzt sie hingebungsvoll und scheinbar mühelos; in den Pas de deux hat sie nur Augen für ihren Prinzen und dreht in ihrem Enthusiasmus zahllose Pirouetten. Der ebenso elegante wie virtuose Mathieu Ganio partnert sie gekonnt und wirft sich so mutig-entschlossen in seine tückischen Variationen wie Hofmanns Nussknacker aus dem Spielzeugschrank. So gelangt das Paar am Ende zu einer Apotheose, die tatsächlich etwas Magisches hat, was nicht zuletzt Tschaikowskys Partitur zu verdanken ist.
Das Corps de ballet tut sich vor allem im sehr schön arrangierten Schneeflockenwalzer hervor und amüsiert sich sichtbar in den Volkstänzen. Trotz dieses Elans wäre es wohl kein Fehler, eine Wiederaufnahme von John Neumeiers 1993 ins Pariser Repertoire eingegangenen „Nussknacker” zu erwägen.
Besuchte Vorstellung: 14.12.09, Paris, Opéra Bastille www.operadeparis.fr
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