Psychologisch aufgeladenes Lebensmärchen
Rudolf Nurejews „Nussknacker” wieder in Paris
„Nussknacker“ ist seit jeher ein problematisches Werk aus der Sicht des Ballettliebhabers. Schon die Kritiker der Uraufführung beklagten die langwierige Pantomime im ersten Akt, die wenigen Tanzpassagen und das Fehlen interessanter Solistenrollen. Die meisten Partien, einschließlich die von Clara, Fritz und dem Nussknacker, wurden damals von Kindern verkörpert, und erst ganz am Schluss traten die Solisten – Antonietta dell’Era als Zuckerfee und Pavel Gerdt als Prinz Coqueluche – zum Grand Pas auf die Bühne. Es ist nicht zuletzt Tschaikowskys märchenhafter Partitur zu verdanken, dass sich das Ballett bis heute auf den Spielplänen der meisten großen Ballettkompanien hält, als Weihnachtsballett par excellence.
Auch das Ballett der Pariser Oper zeigt in dieser letzten von der langjährigen, vor anderthalb Monaten aus ihrem Posten geschiedenen Direktorin Brigitte Lefèvre geplanten Spielzeit (sie wurde am 1. November vom erst 37-jährigen Benjamin Millepied ersetzt) seinen „Nussknacker“ – und wie die meisten Pariser Klassiker stammt die Version von Rudolf Nurejew. Dieser liebt es, seine Märchen in einen freudianisch-psychologisierenden Mantel zu kleiden, und hier kann er sich in der Tat darauf berufen, dass Freud in „Das Unheimliche“ ausgiebig auf E.T.A. Hoffmann verweist. Dieser schrieb die ursprüngliche Fassung von „Nussknacker und der Mäusekönig“, auf der Nurejews Ballett basiert. Der russische Choreograf macht das ganze Geschehen zu einem Traum Claras, in dem – wie in seinem Don Quichotte – spukhafte, fledermausartige Figuren auftauchen, die hier in verzerrter Form die Züge von Claras Familie tragen. Aus Claras hinkendem, weißhaarigen Onkel Drosselmeyer wird in ihrer Traumphantasie ein attraktiver Prinz – auch hier scheint Freud Pate gestanden zu haben. Doch bei aller Umdeutung verleiht Nurejew den Figuren kaum psychologische Tiefe. Der erste Akt besteht auch hier aus nicht enden wollenden Familien- und Kindertänzen, kurz unterbrochen von den Soli der als Spielzeugfiguren verkleideten Geschwister Clara, Fritz (Daniel Stokes als übersprudelnder Lausbub) und Luisa (Caroline Robert). Nach einem hübsch choreografierten Gefecht zwischen Ratten und Husaren endet der Akt im Schneeflockenwalzer, wobei die mit rüstungsartigen Tutus und helmähnlichen Kopfbedeckungen bewehrten Schneeflocken wirken, als wollten sie sich selbst gleich ins Kampfgetümmel stürzen. Noch unglücklicher ist das Los der Corps de Ballet-Damen im goldüberfluteten Ball im zweiten Akt: diese werden von ihren Kavalieren wie störrische Ponys (mit Perücke und Feder auf dem Kopf) kreuz und quer über die Bühne geschoben, gerade noch rechtzeitig, um den Blick auf das nun endlich zum tänzerischen Feuerwerk ansetzende Hauptpaar freizugeben.
Wie so oft am Jahresende, an dem in Paris stets zwei große Ballette auf dem Spielplan stehen und die Tänzer für den jährlichen „Concours“ (Wettbewerb, um in der fünfstufigen Hierarchie aufzusteigen) trainieren, geriet die Direktion in Besetzungsnöte, nicht zuletzt, da sich Ausfälle und Verletzungen häufen. So hat derzeit eine Vielzahl zum Teil sehr junger Tänzer die Gelegenheit, sich an Nurejews anspruchsvoller Choreografie zu erproben. Allein in den ersten drei Besetzungen wurden die Hauptrollen von drei Coryphées bestritten, der zweitunterste Rang der Pariser Hierarchie (alle drei wurden beim diesjährigen „Concours“ vor ein paar Tagen in den Rang des „Sujet“ befördert). Der jüngste von ihnen war der gerade zwanzigjährige Hugo Marchand, ein groß gewachsener blonder Tänzer, der bisher in keiner einzigen Solorolle auf der Opernbühne zu sehen war (jedoch gewann er dieses Jahr Bronze in Varna). Er tanzte anstelle des ursprünglich vorgesehenen Stéphane Bullion den Prinzen an der Seite der erfahrenen Solistin Mélanie Hurel, und das ungleiche Paar gab eine erstaunliche Darbietung. Hurel zeichnete sich trotz einiger Ermüdung am Ende durch eine solide Technik aus und überzeugte durch ihr nuanciertes, nicht übertriebenes Spiel. Marchand erwies sich abgesehen von kleinen Unsicherheiten als aufmerksamer Partner und bewies bemerkenswertes tänzerisches Potential. Er kämpfte sich heldenhaft durch die mit Nurejewschen Fußfallen gespickte Choreografie und brillierte vor allem in seiner exzellenten Variation. Besonderes Lob gebührt ihm allerdings dafür, die Schlusspose des Pas de deux – der Prinz wuchtet die Ballerina geradezu waagrecht in die Höhe und hebt gleichzeitig das hintere Bein – durch die Eleganz seiner Arabesque (die eines seiner Markenzeichen zu werden verspricht) und seine Standfestigkeit beinahe der Peinlichkeit entrissen zu haben.
So erobert die neue Generation – nicht so vertraut mit Nurejews Stil wie ihre Vorgänger – das klassische Repertoire mit frischem Elan, und man kann sich angesichts dieser gelungenen Anfänge darauf freuen, sie unter ihrem jungen Direktor weiter in dieses hineinwachsen zu sehen.
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