Ritual des neuen Mannes
„Lemniskata” von Lukas Avedaño feiert auf Kampnagel Europapremiere
Eine Performance über „die Phantome der Erinnerung an den Holocaust“ von Jochen Roller und Saar Magal in der Hamburger Kampnagelfabrik
Es ist die Generation der Enkel, die die Geschichte der Nazi-Vergangenheit seit einigen Jahren am intensivsten aufarbeitet. Ausgangspunkt zahlreicher Arbeiten in allen Sparten der Kultur ist die erste Wehrmachtsausstellung („Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944“) die zwischen 1995 und 1999 an 33 Orten gezeigt und rund 900.000 Besucher angezogen hatte (die zweite, nicht mehr ganz so aufrüttelnde Fassung erreichte zwischen 2001 und 2004 an 13 Orten 420.000 Besucher). Nicht wenige erkannten auf den dort gezeigten Fotos Verwandte – und Großväter mussten sich ebenso wie Großmütter der Frage stellen: „Was hast Du damals getan?“ Erstaunlicherweise antworteten die Kriegsteilnehmer den Enkeln offener und ehrlicher als in den sechziger, siebziger und achtziger Jahren den Töchtern und Söhnen. Und ins Rollen kam eine breit gefächerte Auseinandersetzung nicht nur mit den Verbrechen der Wehrmacht, sondern insgesamt mit dem Tabu der Nazizeit. Vor diesem Hintergrund ist „Basically I don’t but actually I do“ von Jochen Roller, Tänzer, Choreograf und Kurator des Kampnagel-Tanzprogramms, und Saar Magal, Tänzerin und Choreografin aus Israel, zu verstehen. Beide gehören – 1971 und 1976 geboren – zu dieser Enkelgeneration. Rollers Großvater war bei der SS, Sagals Großeltern haben Auschwitz und andere KZs überlebt.
Der Anfang ihrer szenischen Collage, die am 4. März in der Hamburger Kampnagelfabrik uraufgeführt wurde, ist befremdlich: Alle Besucher werden aufgefordert, die Schuhe auszuziehen (sie stehen dann in Reih und Glied an einer Seite des Bühnenvierecks) und sich an drei Seiten des weißen Tanzteppichs aufzustellen (viele setzen sich allerdings schon kurz darauf einfach auf den Boden – 55 Minuten Stehen ist nicht jedermanns Sache). Währenddessen spielen Roller und Magal Strand-Tennis, sie im gelben Dress, er im braunen – erkennbare Anspielungen auf Judentum und Nazis. Die Bühne ist karg: Zwei Mikrofone stehen einander schräg gegenüber, daneben jeweils ein Bücherstapel, als gelber und brauner Kreis liegen Kleidungsstücke ebenfalls polar zueinander auf dem Boden. Plötzlich ziehen sich beide durchsichtige Plastik-Capes über und jagen einander – zuerst er sie, dann sie ihn, wobei sie sich wechselseitig hinter dem am Rand stehenden Publikum verstecken. In der nächsten Sequenz produzieren sie, beide sich am Mikrophon gegenüber stehend, Wortspiele mit den Begriffen „jew“, „german“, „black“, „gay“, wobei sie u.a. die Frage aufwerfen, ob ein Palästinenser Jude sein kann. Dann wechseln sie die Kleider – jetzt ist sie braun und er gelb – und zwingen einander in verschiedene Posen der Unterdrückung, begleitet von Jahres- und Codezahlen aus der Neonazi-Szene (mit denen vermutlich nur Kenner etwas anfangen können), bis hin zu dem berühmten „Fangschuss-Foto“ aus der Wehrmachtsausstellung (wo ein Wehrmachtsoffizier mit der Pistole auf einen sterbenden serbischen Zivilisten zielt). In der nächsten Sequenz greift sich Jochen Roller eines der Bücher und schleudert Nazi-Begriffe in den Raum, woraufhin er im Wechsel mit seiner Partnerin Ausreden zitiert, die wohl jeder schon einmal gehört hat, der Eltern oder Großeltern danach gefragt hat, was sie zwischen 1933 und 1945 getan haben: „Du kannst mich nicht verantwortlich machen für etwas, was ich tun musste“, „Ich war einfach dort“, „Jeder hat es getan“, „Ich kann mich nicht genau erinnern“. Woraufhin er Saar Magal mit eben den Büchern bewirft, aus denen er soeben zitiert hat. Wieder wechseln sie die Kleider – nun ist sie wieder gelb, und er braun. Sie nimmt eine Tonband-Spule aus einer gelben Tasche und rollt sie langsam am Rand des Bühnenfeldes rückwärts gehend ab, wobei sie einige der Zuschauer mit dem Band umwickelt. Von der anderen Seite kommt ihr Partner entgegen, während aus seinem braunen Rucksack der schlecht verstehbare Bericht eines Erzählers mit jiddischem Akzent (ist es Marcel Reich-Ranicki?) tönt.
Das Stück endet, indem alle Scheinwerfer erlöschen und ein Filmprojektor ein gestörtes Bild auf den Tanzboden wirft. Während dieses Quadrat grau vor sich hin flimmert, ziehen sich Roller und Magal aus und schmieren sich braun-graue Farbe auf die nackten Körper. So legen sie sich bäuchlings in das Projektionsfeld, während es aus den Lautsprechern immer stärker rhythmisch wummert, bis es schlagartig still wird und die beiden ins Dunkel abgehen. Zurück bleiben die Abdrücke zweier Körper auf weißem Grund. Dieser „Katalog aus Bildern und Situationen, die als Phantome der Erinnerung an den Holocaust in den Köpfen und Körpern gespeichert sind“ (Programmzettel) hat nicht viel mit Tanz zu tun, aber ganz viel mit einer kreativen und intensiven Auseinandersetzung mit einem Thema, das uns gar nicht genug beschäftigen kann, damit es sich nicht wiederholt.
Weitere Vorstellungen am 6./7./8. März (21 Uhr) sowie 12./13./14. März (20 Uhr) in der Kampnagelfabrik und am 16./17./18./19. April in den Sophiensälen in Berlin.
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