Crankos Erbe
Das Stuttgarter Ballett trauert um Dieter Graefe
Regungslos und breitbeinig stehen die Bauerntrampel an der Rampe, starren aufsässig ins Publikum, minutenlang völlig ungerührt. Wenn ihnen, nach viel Gekicher der Zuschauer, endlich ein missmutiger Walzer in die unwilligen Glieder fährt, dann ist es ausgerechnet die Ouvertüre zur „Fledermaus“ mit der herrlich ironischen Textzeile „Oh je, oh je, wie rührt mich dies“. So klingt die Grundtonart von Christian Spucks „Leonce und Lena“, der Geschichte zweier trauriger Königskinder, die einander nicht heiraten wollen und sich unbekannterweise doch verlieben. Als Übernahme vom Essener Aalto-Theater hatte die Georg-Büchner-Adaption beim Stuttgarter Ballett im Opernhaus Premiere. Mit trockener Komik und schriller Optik flutscht die groteske Tanztheater-Miniatur schmerzlos in zwei Stunden durch, umschäumt von sprudelnden Walzern und Polkas. Nach dem Jubel und Blumenregen bei der Premiere zu urteilen, dürfte die Ballettkomödie ein Riesenerfolg für Reid Andersons Kompanie werden wird.
Es wird nur ein bisschen wenig getanzt. Wie so oft hat Christian Spuck eine perfekt passende Musikcollage zusammengestellt, zwischen Werken aller drei Wiener Walzer-Sträuße streut er die Hitparade der Ballettmusik und ein paar laszive Feelgood-Songs, konterkariert durch erstaunlich Putziges von Alfred Schnittke und Bernd Alois Zimmermann, schließlich ein paar elektronische Einwürfe Martin Donners. Die Partitur, spritzig dirigiert von James Tuggle, passt ideal zur ironischen, liebevoll-schrulligen Ästhetik der Aufführung, zu dem Panoptikum schräger Gestalten, dem Ausstatterin Emma Ryott durchweg rote Apfelbäckchen und spitze Schnütchen aufgemalt hat. Unter den weißen Perücken des Hofstaats sprießen Ticks und Marotten, Frackschöße kringeln sich und hilflose Minister verzweifeln ob ihres kindlich-schwofenden Königs. Die Schauplätze kreiseln auf einer denkbar einfachen Drehbühne vorbei: eine helle Gartenmauer mit ein paar Vorsprüngen zum Rumlümmeln, das zweidimensionale Wirtshaus samt Bierbänken, der Thronsaal mit zwei Kronleuchtern.
So genial der Stuttgarter Hauschoreograf und designierte Züricher Ballettchef die Musik zusammengestellt hat, so originell sammelt er auch die anderen Bestandteile zusammen. Christian Spuck erhebt das zur Kunst, was er auch bisher schon gut konnte: er lässt sich inspirieren. Als Meister des Pasticcio zitiert er hier nicht nur seine eigenen Stücke herbei, etwa die Clownsfiguren aus „Don Q.“ und „Cupid’s Garden“, sondern auch andere Choreografen wie Cranko, vor allem aber Mats Eks berühmte „Giselle“. An sie erinnert nicht nur der ländlich-robuste Stil der Bauern, sondern das Naive der ganzen Bewegungsweise, die hinausgereckten Ellenbogen oder die vor der Brust zusammengelegt schaukelnden Arme. Wohl wahr, die weißgeschminkte Ästhetik der Commedia dell’arte liegt immanent in Büchners Stück verborgen, und doch gemahnt ihr Einsatz hier deutlich an Bob Wilsons Musicalfassung des Stücks beim Berliner Ensemble. Die Zitate sind nicht immer sinnstiftend und haben oft keine Pointe – aber das Recycling gebrauchter Formen zu einem ewigen Ballettkreislauf passt gut in dieses Stück, in dem die Menschen zu mechanischen Puppen versteinern, in dem sich am Schluss nichts an der Langeweile des ersten Bildes verändert hat.
Spucks Stärke liegt, das bestätigt sich immer mehr, im Theatralischen (als Dramaturgin hat ihn hier Esther Dreesen-Schaback begleitet). Tanztheater ist sein Stück schon deshalb, weil mehr gespielt als getanzt wird. Die Charakterisierung der Figuren gelingt ihm dabei genauso originell wie die eigentliche Erzählung, etwa die Verkündigung der Hochzeit per Schultafel. Da mag es fast zu viel sein, auch Büchners politische Satire umgesetzt sehen zu wollen, denn die ist größtenteils verschwunden – der witzigen Pantomime-Nummer des Königs mit dem Knoten im Taschentuch zum Beispiel fehlt eben die böse Pointe, dass er sich dadurch an sein Volk erinnern wollte. Selbiges Volk endet mit der originellen Tanzverweigerung, die den zweiten Akt eröffnet, letztlich auch nur als Lachnummer. Im Vergleich mit den Klassikern der Ballettkomödie, mit Frederick Ashtons „Fille mal gardée“ oder Crankos „Der Widerspenstigen Zähmung“, bleibt „Leonce und Lena“ aber seltsam substanzlos. Während man erstere immer wieder anschauen kann, nutzt sich hier die Komik an vielen Stellen schon beim ersten Lachen ab.
Rein tänzerisch verlangt Spuck seinen Interpreten nichts Schwieriges ab; wenn der Vorhang zur Pause fällt, wagt man nicht sicher zu behaupten, dass über all der schrägen Pantomime auch getanzt wurde. Das macht nichts, denn das Ensemble spinnt die verschrobenen Knallchargen mit subtiler Komik und feinster Leichtigkeit auf die Bühne. Mag auch Damiano Pettenella als König nicht das perfekte komische Timing haben, sein Disco-Hüftschwung ist klasse, genau wie Anna Osadcenko als trippelndes Aufziehpüppchen Rosetta. Luftig huscht das „zweite“, das komische Paar dahin, Alicia Amatriain als Lenas schrullige Gouvernante und vor allem Alexander Zaitsev als Spaßvogel Valerio, Büchners heimlicher Held – bleibt er doch der einzige, der mit seiner gnadenlosen Zuversicht unbeschadet über all den Weltschmerz hinwegtanzt. Lena ist süß und bei aller Puppigkeit eine geerdete Prinzessin. Ihr fehlt - und das liegt bestimmt nicht an Katja Wünsche, sondern an ihrem Choreografen – die Poesie, die über die Groteske hinausweist, die zarte Zerbrechlichkeit von Büchners todessüchtigem Mädchen.
Der zentrale Pas de deux, bei dem sich Lena und ihr Prinz nachts im Garten treffen, fängt lieb und kindlich-verspielt an. Dann aber bleibt er trotz weiter Hebungen und trotz Zitaten aus „Romeo und Julia“ in der eckigen, bodenständigen Tanzsprache des Stücks gefangen, anstatt für einen Moment die lyrische Liebe aufblühen zu lassen, das hingetupfte, zarte Glück – den „einen Tropfen Seligkeit“, von dem Leonce im Stück spricht. Wie schade, dass Spuck sich hier nicht von Jean-Christophe Maillot inspirieren ließ, einem Spezialisten für solche Pas de deux der gerade entstehenden Liebe. Kein Wunder also, dass er so unrettbar traurig erscheint, der hübsche Prinz mit dem Lockenkopf.
William Moore, der neue Publikumsliebling, deutet nicht nur mit ein paar schönen Sprüngen an, wie unterfordert die Tänzer hier sind (die Essener Kompanie rangiert eben doch ein paar Stufen unter Stuttgart), er weist mit seinem fast Byron’schen Weltschmerz auch als einziger auf Georg Büchners hilflose Ironie der letzten Dinge, den tiefen Pessimismus hinter der Komödie. Ganz wie der Song von Hank Cochran, der Leonce auf seinem Cassettenrecorder als Leitmotiv begleitet: „A little bitty tear let me down, spoiled my act as a clown“. Die kleine Träne, die den Clown als Trauernden verrät, sie hätte ruhig ein bisschen größer sein dürfen in diesem allzu lustigen Ballett.
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