Nach reiflicher Überlegung
Martin Schläpfer zum neuen Direktor des Wiener Staatsballetts berufen
Balanchine, Mats Ek und Martin Schläpfers „Forellenquintett“ beim Ballett am Rhein
Es ist ein Abend, der bildet: mit der klugen Zusammenstellung der Premiere „b.06“ im Duisburger Theater zwingt das Ballett am Rhein den Zuschauer geradezu, über die verschiedenen Stilausprägungen der Neoklassik nachzudenken, woher sie ihren Anfang nahm und wozu sie heute geworden ist. Wir beginnen bei einem ihrer grundlegenden Werke, George Balanchines „Vier Temperamenten“ (die, obwohl sie jahrelang in Deutschland unter ihrem deutschen Titel getanzt wurden, hier „The Four Temperaments“ heißen – man kann es auch übertreiben mit der Bildung). Kantig und intellektuell, radikal duchstrukturiert durch gespiegelte Symmetrieachsen von den großen bis in die kleinsten Formen, wirkt dieses Ballett wie ein Lehrbuch der Körpergeometrie, wenn es seine trockenen Exercicen durchweg frontal zum Publikum hin demonstrieren lässt.
Aus der theatralischen Umsetzung der Temperamentenlehre könnte man emotionale, hochdramatische Charakterstudien machen, stattdessen zerlegt Mr. B. sie in plastische, exakt abgezirkelte, fast stachelige Kurzszenen. Vor allem die Bewegungen der Frauen wirken hier dezidiert anti-romantisch, sie haben rein gar nichts Weiches oder Fließendes mehr; wie Beweisobjekte werden die Ballerinen gehalten, gehoben, gezogen oder in geometrische Positionen gebracht, alles erdnah und ohne jede Andeutung von Schweben oder Leichtigkeit. Erst im allerletzten Bild fliegen sie kurz über die Köpfe hinweg. Zugleich zeigt das Werk in verblüffender Klarheit, woher William Forsythe (und seine zahllosen Epigonen) die messerscharf gezückten Frauenbeine, die frechen Kicks des gekippten Beckens haben: in Grundzügen war das alles schon 1946 da.
Die große Balanchine-Ballerina Patricia Neary hat das Werk beim Ballett am Rhein exzellent einstudiert, getanzt wurde in der zweiten Vorstellung plastisch und absolut exakt, gerade von Ainara García Navarro, Alexandre Simões, Ordep Rodriguez Chacon und Luisa Rachedi, den Solisten der sanguinischen, phlegmatischen und cholerischen Sätze; einzig Bogdan Nicula wirkt etwas zu munter für sein melancholisches Motto, fast ein wenig manieriert.
In Martin Schläpfers „Forellenquintett“, der Uraufführung des Abends, wird dann deutlich, wie sehr der frisch geehrte Choreograf des Jahres auf Balanchine aufbaut - und wo er sich deutlich von ihm unterscheidet. Natürlich beruht sein Vokabular fest auf der Neoklassik; fast wie in einem Zitat aus dem vorangegangenen Stück zum Beispiel lässt Schläpfer seine Ballerinen in gehaltenen Arabesquen langsam von den Männern drehen. Wo Balanchine aber die Struktur über alles setzt, im Großen wie im Kleinen, da ist der Schweizer Impressionist, setzt wie so oft sein Ballett aus vielen einzelnen, fast pointillistischen Eindrücken zusammen, die hier als Gesamtbild eine Art skurrile Romantik à la Schläpfer ergeben. Im direkten Vergleich ist seine Musikalität verspielter, zärtlicher oder übermütiger als die des großen Vorbilds, sie tanzt nicht ernst und respektvoll die Noten nach, sondern ahnt sie voraus, spielt mit ihnen, berührt sie nur noch mit den Fußspitzen.
Schuberts berühmten Klavierquintett schickt der Choreograf den Popsong „Don’t be shy“ von The Libertines voraus, zu dem sich, nomen est omen, fünf groteske Zauberwesen aufreizend räkeln. Erst dann senkt sich das faszinierende Bühnenbild von Keso Dekker herab, ein abstrakter, durchsichtiger Zauberwald, der genau wie Dekkers Kostüme farbig oder in fahlem Schwarzweiß changiert. Die Ganzkörpertrikots der Männer erstrahlen in einer Art Geisterbahn-Chic wie exotische Motten, während die Frauen mit ihren grellen Rot-, Gelb- und Grüntönen gleich in mehrere Farbtöpfe gefallen sind. Getanzt wird in in Schläppchen, später auf Spitze oder auch in Gummistiefeln – ein vergoldenes Riesenpaar von ihnen schwebt wie ein Fanal über der Bühne, ein anderes Paar wird sorgfältig durchs Stück gereicht und behutsam ans Herz gedrückt.
Wie so oft in Martin Schläpfers Balletten ist Jörg Weinöhl der philosophische Einzelgänger, in diesem Fall der Angler, der die launische Forelle aus ihrem Bächlein helle herausfischt, ganz wie es im Text des berühmten Schubert-Lieds steht. Zuvor aber entfaltet sich eine Art Sommernachtstraum, wo uns zwischen weiteren Entrückten der Shakespearsche Puck gleich in mehrfacher Ausfertigung begegnet, angeheitert wie Antoine Jully, der schon vom Anschauen eines Glases Beaujolais betrunken wird, oder virtuos-grotesk wie Bogdan Nicula.
Im zweiten Satz gerät der Tanz dann auf rätselhafte Weise minutenlang ins Stocken, gefriert in stoisch gehaltenen, klassischen Posen von sieben Paaren, bevor sich im Scherzo der Zauberwald in die blau schimmernde Mondlichtung des Romantischen Balletts verwandelt, wo eine Elfe und ihr Kavalier die klassischen Sylphiden-Posen zelebrieren. Im vierten Satz dann kreiselt das "Fischlein" Marlúcia do Amaral mit ihrer stupenden Technik schwerelos auf Spitze über die Bühne, dem lauernden Angler direkt in die Arme. Sie wehrt sich mit ein paar sanft parodierten "Hilfe!"-Pantomimen, er triumphiert mit einer Groteske zwischen Veitstanz und Schuhplattler und zerrt die Liegende an einem Fuß über die Bühne, bevor zum Schluss das ganze Ensemble in Lektüre versunken über die Bühne geht, an deren Rande ein Liebespaar vor sich hinträumt.
Vielleicht muss man das mild-exzentrische Ballett als einen Reigen betrachten, in dessen leichtfertiger Narretei wie bei Shakespeare alle Weisheit liegt. Mats Eks fünf Jahre altes „Aluminium“ schließlich schildert mit den Bewegungen der Neoklassik psychologische Zustände und zweifelt deshalb immer wieder an ihrer klaren Linie, er lädt sie mit einem ganzen Spektrum moderner und zeitgenössischer Einflüsse auf. Balanchines aus der russischen Tradition übernommene Rollenverteilung zwischen Ballerina und stützendem Partner ist rückstandslos verschwunden, Männer und Frauen schenken sich nichts.
Rätselhaft und spannend entfalten sich zur ultranervösen Minimal Music der „Shaker Loops“ von John Adams die Szenen einer Ehe. Die gesamte Ausstattung glänzt im matten Silber des titelgebenden Metalls, sogar der Tanzboden schimmert wie Aluminium, es ist eine kühle Welt von steriler Eleganz. Doch wenn das Ensemble in seiner grotesk-anbetenden Haltung über die Bühne stürmt, die empfangenden Arme nach oben geöffnet, dann haben Mats Eks Figuren etwas Archaisches und Dumpfes, wirken wie Gefangene in sich selbst. Die Aluteller fliegen klappernd zu Boden, die Alutische schießen wie Geschosse über die Bühne und knallen aufeinander, im Fließen des Tanzes entladen sich Aggressionen, das zögerlich Aufgestaute bricht sich immer wieder Bahn. Fast beängstigend der Schluss – in ihrem Körperpanzer aus dem Küchenschrank schlüpft die zentrale Frauenfigur (Yuko Kato) fast unbemerkt ins Dunkel, verschwindet einfach im Nichts.
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