Köstliche Kostproben und geballte Tanzlust
„b.39“ in Düsseldorf
Der Vater der Neoklassik, der zeitgenössische Klassiker und ein moderner Meister der Choreografie auf derselben Bühne vereint − da kann der Jubel des Publikums nicht ausbleiben. Betörend in der Präzision geometrischer Muster und exakter, aber niemals anbiedernd illustrativer Korrespondenz zu Bachs Konzert für zwei Violinen und Orchester fordert George Balanchines „Concerto Barocco“ jede neoklassische Kompanie immer wieder zu technischer Perfektion und „eiskalter“ Klarheit (im eisblauen Ambiente) heraus, ohne dabei die menschliche Wärme zu verlieren. Dem Ballett am Rhein − hier vertreten durch zweimal vier Tänzerinnen sowie So-Yeon Kim und Louisa Rachedi als Solistinnen, unterstützt von Andriy Boyetskyy − gelingt Balanchine immer besser. Auch die schiere Eleganz und das Raffinement von Hans van Manens diffiziler Tanztechnik als federleicht „gezauberte“ Körperkunst bringen sieben fabelhafte Solisten im „Kleinen Requiem“ auf Henryk Góreckis melancholisch-charmantes „Kleines Requiem für eine Polka“ für Klavier und 13 Instrumente mit großem Ernst und im 3. Satz chaplinesk auf die große, leere Bühne.
Als Schöpfer „zeitgenössischer Tanzuniversien“ angekündigt, sollte Marco Goecke sich mit Schostakowitschs 8. „Streichquartett“ vorstellen. Aber die Uraufführung musste wegen ernster Erkrankung des Stuttgarter Choreografen vertagt werden. Martin Schläpfer sprang mit einer eigenen Uraufführung in die Bresche, um die schiere Lust zu tanzen seiner Truppe nicht verpuffen zu lassen. In nur vier Wochen stemmten alle gemeinsam Johannes Brahms' „Ungarische Tänze“. Hatte Schläpfer schon in seiner Mainzer Zeit mit der halb so großen Kompanie stark auf die Individualität seiner Tänzerinnen und Tänzer gesetzt, so nutzt er die (Zeit-)Not als Gunst der Stunde, um neue Talente und Charaktere ins Rampenlicht zu stellen. Wer könnte sich je satt sehen an Marlúcia do Amarals eitler Koketterie oder müde werden, Yuko Katos unverwechselbare Körperkunst zu bewundern? Bogdan Nicula lässt in einer grandiosen Pas de deux-Variation mit hohen, weiten Sprüngen seinen kühnsten Träumen vom klassischen Star-Ballerino freien Lauf − bis er „erwacht“ und am liebsten im Boden versänke vor Verlegenheit. Camille Andriot, neben Julie Thirault und Louisa Rachida noch immer eine der führenden Ballerinen der Kompanie, überrascht mit darstellerischem Talent. Überhaupt probt Schläpfer hier zwischendurch kleine Szenen. So zermürbt sich etwa − ganz ohne Musik − ein altes Bauernpaar (Boris Randzio und Anne Marchand) gegenseitig. Ein Hüne (Chidozie Nzerem) malträtiert seine zierliche „Sklavin“ (Sachika Abe) bis zu deren scheintoter Ohnmacht; aber sie kehrt wieder, fesselt ihn und zerrt ihn wie Schlachtvieh davon. Manche Szenen verströmen derben Witz wie in Schläpfers „Appenzeller Tänzen oder Marsch, Walzer, Polka“ − zum Beispiel gleich zu Beginn ein Ensemble: O-beinig tanzen alle in langer Reihe von hinten auf die Bühne. Wirklich „aus einem Guss“ ist diese einstündige Choreografie (noch!) mitnichten − was für ein Wunder unter diesen Voraussetzungen.
Dennoch: b. 13 − der Ballettabend mit der „Unglücks“-Zahl − erweist sich als ein Glücksfall für Martin Schläpfers Arbeit am krisengeschüttelten Doppeltheater Düsseldorf-Duisburg, zeigt er doch, wie die schiere Lust zu tanzen reiche Früchte trägt.
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