Abschluss einer Ära
Mit den Hamburger Ballett-Tagen endet die Intendanz John Neumeiers
Das Hamburger Ballett gastiert mit John Neumeiers „Hommage aux Ballets Russes“
Es ist alles ganz leicht zu verstehen, es fügt sich so perfekt ineinander, wenn man mal drin ist im Neumeier-Universum. „Le Pavillon d’Armide“, das vor eineinhalb Jahren in Hamburg entstandene Ballett über den Sanatoriumspatienten Vaslaw Nijinsky, ist der Epilog zum wesentlich komplizierteren, zehn Jahre alten Meisterwerk „Nijinsky“, ihre Schnittstelle ist der Ausbruch des Wahnsinns beim legendären Tänzerstar der Ballets Russes. John Neumeier erzählt das mit seiner typisch flüssigen Dramaturgie und seinen typischen Versatzstücken, er durchflicht die Handlung mit voraus- und zurückweisenden Anspielungen, doppelt und spaltet die Personen, lässt sie wie so oft zwischen Fiktion und Realität, Gut und Böse changieren (Ivan Urban zum Beispiel wird vom teuflischen Arzt zum visionären Diaghilew, ist Verführer, Geliebter und Strafender).
Staunenswert passgenau hat der Hamburger Choreograf die Geschichte in Nikolai Tscherepnins romantisch-schöne, vergessene Ballettmusik hineingelauscht; Michail Fokine schuf einst zu ihr ein lange verlorenes Ballett für den allerersten Auftritt von Diaghilews Truppe in Paris. Leicht und selbstverständlich gehen dem Nijinsky-Spezialisten die kleinen Anspielungen auf „Le Spectre de la Rose“, „Petruschka“ oder andere Werke der Ballets Russes von der Hand, und durch das Zögern, ja manchmal Fast-Stillstehen seines Stücks charakterisiert er das verlangsamte Leben in einem Sanatorium. Und doch: es wirkt alles ein bisschen zu einfach, zu vordergründig. Denn der Wahnsinn dieses Nijinsky hat Methode, der Kranke erscheint müder, „normaler“ als der völlig entrückte Künstler im Suvretta-Haus am Ende von „Nijinsky“. Sein Wahn ist nur Erinnerung, es schieben sich lediglich Rollenidentitäten über die echten Menschen. Nichts gerät durcheinander, nichts entsetzt ihn, es gibt keine Dunkelheit, keine Angst, keinen verzweifelten „Clown Gottes“ (was freilich auch an der konfliktfrei schönen, oft an Delibes gemahnenden Musik liegen mag). Ein Künstler erinnert sich an seine Vergangenheit und schließt mit ihr ab.
Wenn die Hauptfigur am Ende ihren „weltlichen“ Anzug ablegt, so ist das ein bewusster Entschluss, nun völlig in die dunkle Nacht hinüberzugehen, oder vielmehr in eine Transzendenz, denn die leere Bühne ist hell erleuchtet. Aber warum erklingen ausgerechnet die ersten Töne von „Le Sacre du Printemps“, was opfert Nijinsky hier – seine Kunst? Sich selbst? John Neumeier verehrt Nijinsky und verklärt ihn hier so weit, dass dessen Krankheit eher Depression als Schizophrenie zu heißen scheint; die melancholische Erzählung entwickelt nie die eruptive Kraft von „Nijinsky“, sondern bleibt eine Hommage, getragen von der Liebe zu Nijinsky und den so unvergleichlich persönlichkeitsstarken Hamburger Tänzern: von Otto Bubeníček als der Welt abhanden Gekommenem, vom geschmeidigen, sinnlichen Thiago Bordin in der Danse siamoise, von Ivan Urban und Joëlle Boulogne, vor allem aber von Alexandre Riabko, dessen Höhenflüge im Pas de trois die Sensation des damaligen Auftritts im Jahr 1909 erahnen lassen. Der zarte und doch so intensive Riabko ist es auch, der Nijinsky in „Vaslaw“ verkörpert, Neumeiers dreißig Jahre alter, erster Auseinandersetzung mit dem Ballets-Russes-Tänzer, eine respektvoll forschende Vorabskizze zu seinen späteren biografischen Balletten.
Das noch recht abstrakte Ballett sieht ein wenig so aus, als wäre ein Béjart-Tänzer in einer Balanchine-Anordnung gestrandet; der Flügel, an dem Michal Bialk Fugen und Tänze von Bach spielt, steht in der Mitte der Bühne, vier Paare und die ausdrucksvolle Einzelgängerin Patricia Tichy zelebrieren ihre sicheren, vorgeschriebenen Bahnen, während der einsame Solist verspielt um sich selbst kreist oder den Blick in weite Fernen richtet. Neumeiers „Le Sacre“ ist schon fast vierzig Jahre alt und wird bei aller seriösen Klassikgrundlage doch ein wenig von Hippie-Stammesgefühl der damaligen Zeit, von „Hair“ und Woodstock durchweht. Irritierend wirkt die hartnäckig horizontale Ausrichtung, endlos bewegen sich die Tänzer quer über die Bühne, verschwinden immer wieder in den Kulissen des Festspielhauses.
Erst spät formen sich andere Strukturen, pulsierende Menschenknäuel mit gereckten Armen. Auffällig sind die kleinen Ähnlichkeiten zu Glen Tetleys Münchner bzw. Stuttgarter Version, die von strukturellen Ideen bis zu konkreten Bewegungsanleihen Tetleys reichen, dessen Choreografie zwei Jahre nach Neumeier entstand. Die Hamburger Version endet mit zwei langen Solos, im zweiten begeistert wiederum Patricia Tichy mit ultimativer Hingabe und genau der brennenden Schärfe aller Bewegungen, die Edvin Revazov im ersten Solo vermissen lässt.
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