Opfer der Tanzglobalisierung

Neue Ballette von Wayne McGregor und Jorma Elo

Stuttgart, 09/07/2010

Das haben wir schon lange nicht mehr als Uraufführung bekommen: ein klassisches Tutu-Ballett, gespickt mit hochvirtuosen Sprüngen, Drehungen und Tricks, ein gefundenes Tanzfutter für die Stuttgarter Kompanie. Der Finne Jorma Elo, von dem in Stuttgart bereits das deutlich belanglosere „Slice to sharp“ zu sehen war, zeigt nun mit „Red in 3.“ ein großes, konzertantes Ballett zu Tschaikowskys Violinkonzert, das sich nicht zwischen Kunst und Parodie entscheiden und damit irgendwie alle glücklich machen will. Mit den zwei letzten von insgesamt sechs Uraufführungen beendet das Stuttgarter Ballett im Schauspielhaus die Spielzeit, die Premiere fand fußball- und hitzebedingt vor ungewöhnlich leeren Reihen statt.

Ein strahlend roter Theatervorhang ist das ganze Bühnenbild von „Red in 3.“, zunächst verbirgt er die aufgereihte Tänzerphalanx, dann schwebt er als Baldachin über ihnen oder hängt gerafft im Hintergrund. Über niedlich gewellten Tutus für die Damen und weißen Trikothosen für die Herren tragen die Tänzer hautfarbene Oberteile, deren Spitzenapplikationen irgendwie an Großmutters Nylon-BHs erinnern (Kostüme: Yumiko Takeshima). Natürlich will sich Jorma Elo nicht als Eklektizist bedauern lassen, deshalb durchkreuzt er die hyperaktive Virtuosität seines vierzigminütigen Werkes ständig mit puppenhaften, mechanisch-grotesken und leidlich ironischen Brüchen. Nun ist die gestörte klassische Linie keine neue Erfindung, von Jiří Kyliáns „Sinfonie in D“ über „The Concert“ von Jerome Robbins bis hin zu Christian Spucks „Le Grand Pas de deux“ leben schon einige heitere Ballette davon. Statt einer Petipa- ist dieses eher eine Balanchine-Parodie, die sich Elo, derzeit Hauschoreograf beim Boston Ballet, in den USA vielleicht so nicht getraut hätte. Jedenfalls klingt Tschaikowskys Violionkonzert mit seinen ebenso hochvirtuosen Kadenzen und Trillern irgendwie überkandidelt aus den Lautsprechern, wenn man diese Art Tanz dazu sieht.

Stets lässt der gerissene Choreograf seinen Humor ein Fitzelchen bedeutungsschwanger aussehen, als könnten das tiergleiche Kopfwackeln, das Deuten oder Herumkurven der Hände, das Vor-sich-hin-Staunen eine geheime Botschaft haben. Haben sie nicht, aber was soll’s – die Stuttgarter Tänzer sind exzellente Techniker, dann darf man diese unverblümte, satte Virtuosität auch mal genießen und Filip Barankiewicz, Alexander Zaitsev, Arman Zazyan, Angelina Zuccarini, Anna Osadcenko oder wie sie alle heißen einfach nur bewundern. Die subtile Maria Eichwald findet sogar noch das passend ironische Lächeln zum Stück.

Der britische Choreograf Wayne McGregor war zuletzt vor fünf Jahren für sein elektrisierendes „Eden I Eden“ in Stuttgart zu Gast, kurz darauf wurde er zum Haus-Choreografen des Londoner Royal Ballet ernannt. Seitdem reicht man ihn nicht nur bei den großen klassischen Kompanien herum, er feiert gleichzeitig mit Random Dance Erfolge in der freien Szene, ist bei den „Harry Potter“-Filmen und bei Andrew Lloyd Webber aktiv. Erst seit kurzer Zeit gibt es leichte Kratzer am Image des britischen Über-Choreografen, vor allem nach seiner Premiere „Outlier“ beim New York City Ballet. Auch die Stuttgarter Uraufführung „Yantra“ macht nicht recht glücklich.

Zu einer heftig dräuenden Musik des finnischen Dirigenten Esa-Pekka Salonen tanzen zwölf Individuuen in weißen Hemdchen gegen den unbeirrbaren Pulsschlag eines riesigen, kryptisch geformten Pendels an, das tiefe Spuren in der Wand hinterlassen hat – im Hinduismus sind Yantras abstrakte Diagramme, McGregor aber bezieht seinen Balletttitel auf den Tänzerkörper, der „das Wesen der Zeit festhalten“ könne. Um das zu erkennen, bräuchte es schon arg viel Fantasie, denn die Tanzsprache des Stücks entspricht mit ihren überdehnten Winkeln, den milden Körperkontorsionen und den abgeknickten Händen dem derzeit üblichen Standard für modernes Ballett. Einzelne Körperteile bekommen ihre eigenen Impulse, Kopf, Hüfte oder Hintern werden geduckt, gestoßen, geschoben, Wellen gleiten durch den Körper. Ohne die gestreckten Beine oder die Pirouetten des klassischen Tanzes je ganz zu vergessen, arbeitet McGregor an einer Dekonstruktion des klassischen Bewegungsmaterials, wie sie William Forsythe schon vor Jahren zu Ende erforscht hat.

Zu den donnernden Akkorden des dreiteiligen Musikstücks „Foreign Bodies“ stehen die mechanisierten, aber doch nie ganz entmenschlichten Bewegungen in einem seltsam losen Zusammenhang, größere Strukturen wie Duos oder Ensembles entstehen eher zufällig. Wer nicht tanzt, sitzt verloren in den Ecken der offenen Bühne, andere der durchweg exzellenten, hingebungsvollen Tänzer lehnen an den Scheinwerferbatterien. Sparsam gestreute Elemente wie ein zärtlicher Handkuss oder ein Huster, die Beziehungen oder gar einen Inhalt vortäuschen, wirken fremd und deplatziert, „Yantra“ ist auf einem sehr hohen Niveau beliebig. Im Dickicht der verschiedenen Einflüsse hat Wayne McGregor den eigenen Stil, die unverwechselbare Sprache verloren, er ist sozusagen Opfer der Tanzglobalisierung geworden. Gesprächsthema in der Pause war dann auch eher die modische Beinbekleidung des Choreografen als sein Stück.

Kein Wunder, dass zwischen den beiden Neuheiten das kleine, bescheidene „Pocket Concerto“ des deutlich weniger berühmten Rumänen Edward Clug so starken Eindruck macht. Mit ihrem flüssigen, manchmal nervös durchzuckten Gleiten gewinnt die Wiederaufnahme aus der letzten Spielzeit genau das, was den beiden Uraufführungen als Kern, als Seele fehlt: eine innere Spannung, eine ganz eigene Bewegungsqualität.

www.staatstheater-stuttgart.de

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