Beachtliches Potenzial

„Werkstatt der Kreativität“ – ein Projekt der Schule des Hamburg Balletts und des Ernst-Deutsch-Theaters

Hamburg, 02/03/2010

Schon seit Jahrzehnten drängt John Neumeier die Hamburger Kulturbehörde, ihm eine Junior-Kompanie zu finanzieren. Auf den Zuschuss in Höhe von 800.000 Euro wartet er jedoch leider bis heute vergebens – obwohl er sich die Option auf ein solches Ensemble schon 1995 in seinem Vertrag hat festschreiben lassen. Dass es sich durchaus lohnen würde, so etwas auf die Füße zu stellen, zeigte jetzt eine „Werkstatt der Kreativität“, die in dieser Woche im Hamburger Ernst-Deutsch-Theater stattfindet. Vom 1.-6. März zeigen hier die Klassen 7 und 8 der Ballettschule des Hamburg Ballett (und mit jeweils einem Beitrag auch die Klassen IV, V und VI, also die 14- bis 16-Jährigen), was sie sich im Fach Tanz-Komposition ausgedacht haben. Kostüme, Requisiten, Licht, Musik – alles selbst erdacht und zusammengestellt. Elf eigene Choreographien von jeweils fünf bis zehn Minuten – und teilweise beachtliche Leistungen dieser 17- bis 19-jährigen Ballettschüler.

Drei stechen besonders heraus: „Herz“ von Takeshi Ikeda, einem japanischen Sprungtalent, der in diesem, sehr konzentrierten Solo aber sehr zurückhaltend damit umgeht, sich mehr nach innen orientiert. Sodann „Singular Perception“ von Ismael Gil, dem einzigen, der sich getraut hat, 16 seiner Mitschüler auf die Bühne zu holen und gekonnt zu sortieren. Die ganze Meute kommt – alleine und grüppchenweise – auf die Bühne wie Touristen auf Sightseeing-Tour, plappert in ihren Muttersprachen (von Japanisch über Russisch bis Französisch, Italienisch und Englisch ist alles dabei) munter durcheinander, zeigt hierhin und dorthin, giggelt, lacht, um dann plötzlich innezuhalten, die Musik setzt ein, und langsam schälen sich Individuen heraus. Sie begegnen sich, driften auseinander, kommen wieder zusammen, um zum Schluss in ganz individuellen Posen zu verharren. Eine beachtliche Arbeit, die mehr erfordert als Schritte zu Musik zu machen.

Der unbestrittene Höhepunkt des Abends jedoch ist „La mia testa“ des 19-jährigen Italieners Sasha Riva. Er hat darin seine Migräne thematisiert, die ihn seit seiner Kindheit begleitet. Durchschnittlich dreimal in der Woche hat er einen Anfall, wie er in einem persönlichen Gespräch erzählt, er ignoriert ihn einfach, beim Training an der Stange verschwindet der Schmerz, und notfalls nimmt er Medikamente. Wie er diese Situation auf die Bühne bringt, ist schon sehr beachtlich. Noch mehr, wie er sie tanzt – hochgewachsen, grazil und dennoch kraftvoll, mit einer fantastischen Beweglichkeit gesegnet und mit für sein Alter phänomenaler Intensität und Bühnenpräsenz. Drei Tänzer – Soldaten ähnlich – symbolisieren den Schmerz. Sie traktieren ihn, sie quälen ihn, sie martern ihn. Bis eine Tänzerin erscheint – verführerisch mit langen roten Haaren: Sofia Schabus – und ihm Linderung bringt: die Medizin, die Sasha einnimmt, um den Migräneanfall abzubrechen. Aber er stößt sie auch wieder weg – er will nicht abhängig werden von diesem Medikament. Und bleibt zum Schluss allein.

Manches darf sich da noch ein wenig freier tanzen (das Premierenfieber war durchaus noch spürbar), auch erinnert einiges in seiner Bewegungssprache durchaus an Neumeier-Stücke – warum auch nicht? Die Komposition jedoch und vor allem die tief empfundene Darstellung Sasha Rivas trägt eine sehr eigene Handschrift, die ahnen lässt, welches Talent hier darauf wartet, sich entfalten zu dürfen. Entdeckt hat den jungen Italiener die Direktorin der Schule und langjährige Neumeier-Tänzerin Marianne Kruuse, die ihn vor zwei Jahren auf einer Audition sah und spontan nach Hamburg an die Schule einlud. Bis dahin hatte der junge Mann mit klassischem Ballett eher wenig am Hut: sein Hauptinteresse galt Hip-Hop und Modern Dance. Es wird spannend sein zu beobachten, wie sich Sasha Riva weiterentwickelt – seinen Namen werden wir sicher noch oft auf Programmzetteln lesen.

Bleibt zu hoffen, dass dieses Projekt, für das die Intendantin des Ernst-Deutsch-Theaters, Isabella Vertes-Schütter, dankenswerterweise ihr Haus zur Verfügung gestellt hat, im nächsten Jahr fortgesetzt werden kann. Die kleine Bühne gibt den Kompositionen einen sicheren geschlossenen Rahmen, in dem sich die Youngsters ausprobieren können. Dennoch wäre vorstellbar, dass so manches, was jetzt noch eher brav daherkam, in anderer Umgebung frischer wirkt und dass auch die Schüler noch mehr Mut bekommen, neue und ganz andere Formen der Bewegung zu entwickeln.

John Neumeiers Konzept für so eine Kompanie der „Youngsters“ käme dem durchaus entgegen. Seine Junior-Kompanie soll weniger auf Theater-Bühnen auftreten als vielmehr neue Orte für den Tanz erschließen: Altersheime, Pflege-Einrichtungen, Einkaufszentren, Gefängnisse, Stadtteil-Zentren, Clubs (wie es ja Gauthier Dance in Stuttgart bereits erfolgreich praktiziert). „Wir wollen erfahrbar machen, dass Tanz nicht für einen elitären Kreis gemacht wird, sondern eine universelle Sprache ist, die unser aller Leben bereichert“, beschreibt der Hamburger Ballett-Intendant sein Konzept. Die Arbeit an ungewöhnlichen Spielstätten könne ihnen „ein Bewusstsein für ihren Platz in der Gesellschaft vermitteln“, ihnen Erfahrungen verschaffen, die sie in der Diaspora des Bühnenlebens sonst nicht machen könnten – was wiederum ihre künstlerischen Möglichkeiten erweitern hilft.

Vorstellungen am 2., 3., 4., 5. und 6. März, jeweils um 19.30. Programm A vom 1.-3. März, Programm B vom 4.-6. März. Karten zu 25 Euro (ermäßigt 15 Euro) beim Ernst-Deutsch-Theater unter 040-22701420, an der Abendkasse oder tickets@ernst-deutsch-theater.de

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