Terence Kohler: „Cinderella - A Tragic Tale": Samuli Poutanen, Maki Nakagawa, Nicholas Ziegler

Terence Kohler: „Cinderella - A Tragic Tale": Samuli Poutanen, Maki Nakagawa, Nicholas Ziegler

Auf nach Skandinavien

Christian Spuck in Oslo, Terence Kohler in Helsinki

Oslo / Helsinki, 01/11/2011

Natürlich schaut man sich auch in Skandinavien nach Choreografen um, und wenn sich kein eigener zur Mitarbeit anbietet, holt man sie gerne aus Deutschland. John Neumeier hat seine „Kleine Meerjungfrau“ vor sechs Jahren ursprünglich für Kopenhagen konzipiert. Im selben Jahr debütierte Douglas Lee beim Norwegischen Nationalballett mit „Fractured Wake“. 2007 folgte Christian Spuck in Stockholm mit „Tableau perdu“, einem Mendelssohn-Ballett, das prompt von Finnischen Nationalballett ins Repertoire geholt wurde. 2008 schließlich hatte „Fur“ von Marco Goecke Premiere, am neuen Opernhaus inmitten des Oslofjords.

Am selben Ort präsentierte sein Stuttgarter Kollege Christian Spuck vor wenigen Wochen einen „Woyzeck“ als Alternative zu seinem anderen Büchner-Ballett. Da wo in „Leonce und Lena“ Licht und Leichtigkeit herrscht, herrscht jetzt Schwärze und Schwere. Noch lässt die „Music Box“ von Philip Glass, bei geschlossenem Vorhang wie eine Verheißung eingespielt, nichts Böses ahnen. Doch kaum ist die Bühne frei, treten aus dem Dunkel fünf Trommler, die immer wieder so auf ihr Instrument einschlagen, als meinten sie jemand anders. Woyzeck krümmt und duckt sich denn auch in der einzigen Lücke, die sie ihm in ihrer Phalanx lassen, und Philipp Currell, eigentlich ein hochgewachsener, schlaksiger Solist, läuft später tatsächlich durch die Szene, als wäre er, um mit Büchner zu reden, ein offenes Rasiermesser.

Martin Donner hat die perkussiven Intermezzi beigesteuert, und sie fügen sich fabelhaft in ein Gesamtkonzept, das sich aus einigen Kompositionen György Kurtágs, vor allem aus eben wieder entdeckter Filmmusik von Alfred Schnittke zusammensetzt: der ideale Soundtrack eines Ballet noir, das vieles ausschweigt. Umso sprechender die Gesten, entlarvender die Haltungen der einzelnen Personen. Richard Suttie schnurrt als Tambourmajor in winzigen Tippelschritten über die Bühne, als wär‘ er ein aufgedrehter Spielzeugautomat. Der Hauptmann Kristian Ruutus, übergewichtig und dennoch äußerst beweglich, hat etwas von einer Witzfigur. Der Doktor Ole Willy Falkhaugens: eine durch einen riesigen Zylinder ins Übermenschliche verzerrte Schreckgestalt.

Doch die Akteure definieren sich nicht durch Äußerlichkeiten. Spuck gelingt es, nicht nur verständlich eine Geschichte zu erzählen, sondern das Publikum immer wieder an dem Innenleben seiner Protagonisten teilhaben zu lassen, ohne den Gang der Handlung aufzuhalten. Immer wieder dreht sich die S-förmig gebogene Wand, vor der Emma Ryott (wie in „Leonce und Lena“) das Geschehen platziert – und jedes Mal entdeckt man eine neue Facette im Bewegungsspektrum von Woyzeck. Mal ist er seiner Sache sicher (wie im Duo mit Andres). Mal wird er zu Fall gebracht (wie in der Mobbing-Szene mit seinen Soldatenkameraden). Mal erscheint er als ein Getriebener, der kaum noch seiner Sinne mächtig ist und amoklaufend die Geliebte tötet. Eugenie Skilnand verkörpert die Marie in Oslo, und sie verkörpert ihre Schwäche mit einer tänzerischen Stärke, die einem gewaltig den Atem verschlagen kann. Kein Wunder, wenn der Abend mit einem Auszug aus Bachs „Actus Tragicus“ (in der Kurtág-Bearbeitung) verklingt. Der Rest heißt auch hier: Schweigen.

Das ist auch bei der „Tragic Story“ nicht anders, die Terence Kohler für Finnische Nationalballett erarbeitet hat: eine „Cinderella“, die sich in erster Linie an ein erwachsenes Publikum richtet. Deshalb hat der deutschstämmige Australier (mit Wohnsitz München) bewusst auf die walzerselige Ballettmusik Prokofjews verzichtet und in Abstimmung mit Lera Auerbach aus deren Œuvre einen Soundtrack zusammengestellt, der dem Stück ein ganz anderes Gewicht gibt – auch wenn am Ende die Geige vor dem völligen Verstummen in den höchsten Tönen schwelgt. Das Doppelkonzert für Violine, Klavier und Orchester eignet sich gut für den Tanz, ebenso ihr Violinkonzert. Kein Wunder, wo doch die Komponistin nicht zuletzt in der Sinfonie Nr. 1 „Chimera“ auf Musikmaterial zurückgreift, das dem Neumeier-Ballett „Die kleine Meerjungfrau“ entstammt. Auch in Helsinki lässt (wie schon bei Schnittkes Filmmusik in Oslo) das Theremin immer wieder aufhorchen.

Seine körperlose Stimme passt gut in ein Konzept, das etwas Kinematografisches hat. Die Szenen werden ineinander geblendet, und Jordi Roig findet dafür eine Bühnenlösung, die einleuchtet: da ein impressionistischer Wald-Paravent, vor dem sich anfangs sich ein heiles Familienidyll abhebt, dort eine Wand, vor der Kohler später das elegante Interieur der Ersatzfamilie platziert. Alles ist in dieser Aufführung gut begründet. Und weil es in diesem Ballett keine Märchenfee mehr gibt, fällt eben im richtigen Moment ein Lichtschein auf das passende Schuhwerk, das Cinderella weiterhilft. Das funktioniert auch gut, weil Kohler die Kunst seiner Personenführung zwar überspitzt, aber einer billigen Burleske keinen Raum gibt. So ist in der B-Premiere die Stiefmutter nicht mit Minna Tervamäki, sondern mit einem Mann besetzt. Doch Nicholas Ziegler dominiert die Aufführung auch ohne jedes Travestie-Gehabe einzig und allein aufgrund seiner imponierenden Erscheinung. Differenziert sind auch die Töchter: Die eine wird von der Mutter an den Mann gebracht und muss sich entsprechend herzlos arrangieren; die andere dagegen macht keinen Hehl aus ihrer Empathie für die Stiefschwester.

Wie in jeder anderen Aschenbrödel-Variante bekommt auch hier Cinderella (sehr fragil bei allem Selbstbewusstsein: Maki Nakagawa) ihren Prinzen (Samuli Poutanen). Aber wirklich tragisch macht die Geschichte erst das Schicksal des Vaters (Kare Länsivuori), der wie ein alter Esel hinter der Stiefmutter hertrottet und sich erst am Ende in einem Amoklauf aus seinem Joch befreit. Tragisch ist das Schicksal der einen Stiefschwester (Johanna Nuutinen), die nicht den sozialen Ansprüchen der Familie genügt. Tragisch nicht zuletzt die Stiefmutter, die wie ein schnüffelnder Hund die Fährte Cinderellas aufnimmt und doch nicht ihr Ziel erreicht, auch wenn sie ihr beim Ball brutal die Füße wegschlägt und sie so zum Straucheln bringt (was ganz nebenbei den Verlust des einen Ballettschuhs erklärt). Es ist überhaupt anders in dieser „Cinderella“, die Terence Kohler keineswegs verklärt. Als „Tragic Tale“ holt er das Märchen vielmehr auf den Boden zurück und choreografiert so ein Stück Wirklichkeit, das den Zugang zum Ballett nicht erwachsenen Zuschauern erleichtert.

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