Der Klassik-Glamour ist zurück
Erste Gedanken zur Bestellung von Alessandra Ferri als neue Ballettchefin des Wiener Staatsballetts ab Herbst 2025
„Anna Karenina“ beim Weihnachtsgastspiel des Mariinsky-Balletts St. Petersburg
Alexei Ratmansky, Nummer eins unter den heutigen Choreografen der Welteltite, hätte die Oktoberrevolution inszenieren sollen! Ich meine die richtige, die von Lenin ausgerufene – nicht ihre Theaterversion. Aber dafür ist er, Jahrgang 1968, ein paar Jahrzehnte zu spät geboren worden. Immerhin: 1968, wir wissen es, war ein großer Jahrgang des Jahrhunderts. Denn dieser Ratmansky ist ein Erzähler von Weltformat, ein begnadeter Nachfahr der Puschkin, Gogol, Dostojewsky, Tolstoi, Pasternak und Solschenizyn, der die Rhetorik des Balletts aus dem Effeff beherrscht. Nicht auszudenken, wie die Weltgeschichte verlaufen wäre, hätte er die berühmte Rede am 25.10.1917 vom Balkon der Kschessinskaja-Villa in St. Petersburg gehalten. Denn es wäre DIE Rede der Liebe gewesen, der selbstlos-selbstvergessenen, bedingungslosen Liebe, über alle Konventionen und gesellschaftlichen Grenzen hinweg, der Armen und der Reichen, der Etablierten und der Unterprivilegierten. So war er, ein Zuspät-Geborener, gezwungen, sie im Ballett zu erzählen. Genau das hat er getan in seinem Zweiakter, „Anna Karenina“, frei nach Lew Tolstoi,, mit dem das Mariinsky-Ballett aus St. Petersburg jetzt im Festspielhaus Baden-Baden gastierte – ein Weihnachtsgeschenk, wie es dem historischen Format von Baden-Baden, dem Weltkulturbad, entspricht, mit einer Heerschar von Tänzern, dem Orchester des Mariinsky-Theaters und einer Karawane von Dekoristen und Technikern.
Das Gastspiel hat eine Vorgeschichte. Sie reicht zurück bis ins Jahr 1972, dem Jahr des Stuttgarter Ballettgastspiels in Leningrad. Damals tanzten die Stuttgarter „Onegin“. Und Maja Plissetzkaja, Primadonna des Sowjetballetts (neben der Ulanowa), war so hingerissen von der Choreografie John Crankos, dass sie unbedingt ein großes Handlungsballett von ihm haben wollte, am liebsten „Anna Karenina“. Aber dazu kam es nicht mehr, denn Cranko starb schon im folgenden Jahr. Plissetzakajas Mann aber, der Komponist Rodion Schtschedrin war noch an der Arbeit der Partitur. Kein Cranko weit und breit! Also erklärte sich Plissetzakaja bereit, selbst die Uraufführung zu choreografieren. Und das tat sie denn auch am Moskauer Bolschoi-Theater. Mit eher bescheidenem Erfolg, wie sich beim Gastspiel der Moskauer Bolschoiwiken in Wien bestätigte. Und so harrte die Schtschedrinsche „Anna Karenina“ – immerhin nicht ganz so lange wie „Dornröschen“ – ihres Erweckungs-Kusses. Den wagte, noch ein bisschen schüchtern, Ratmansky in einem Testversuch, anno 2004 beim Königlich Dänischen Ballett in Kopenhagen, dem er im Vorjahr den definitiven Kuss in St. Petersburg (wo bereits 1890 die endgültige Erweckung des originalen „Dornröschens“ stattgefunden hatte) folgen ließ, mit dem die Mariinskys seither die Welt bereisen.
„Onegin“ und die Folgen also! Jetzt in Baden-Baden zu besichtigen als eine opulente zweistündige Tanz-Bilderschau über eine Liebe, die zu groß war, als dass sie hätte sein dürfen. Mit dem filmischen Soundtrack von Schtschedrin, bei dem man sich immer nach dem Tschaikowsky des „Onegin“-Originals zurücksehnte, mit russischer Emphase dargeboten und einer fabelhaften Bühnentechnik von Mikael Melbye nebst atmosphärisch-suggestiven Videoprojektionen von Wendall Harrington. Das Ganze arrangiert in einer handwerklich gediegenen, stilistisch vielseitigen klassischen Choreografie auf der Basis der danse d‘école, ohne sich je zu der poetisch-dramatischen Verklärung der großen Cranko-Pas-de-deux zu verdichten (dafür aber auch die Banalitäten des Cranko-Landpomeranzen-Balls bei Larina und die unmögliche Beteiligung der beiden Frauen am Onegin-Lenski-Duell vermeidend). Getanzt von den Russen mit einer schwebenden Leichtigkeit wie auf einer Duftwolke von Eau de Vodka, mit einer Diana Vishneva in der Titelrolle als Miss World von 1877, nicht ganz ihrem Format entsprechenden Männern, sowohl dem angetrauten Ehemann wie dem Lover aus dem zaristischen Offizierskorps. Nebst einer Heerschar von russischem Volk, die man dann nach der Vorstellung mit Hilfe des vorzüglich informativen Programmheftes, identifizieren konnte: als Grafen und Fürsten, Mütter und Väter sowie Geschwister, Sohn, Diener und Amme, Minister, seine Majestät der Zar, dessen Adjutant, Bettlerin, italienisches Paar und Zeitungsverkäufer. Wie gesagt, hinterher, denn während der Vorstellung überwältigte einen die Bilderflut wie ein Tsunami. Seltsam nur, dass die ganze, unerhört aufwendige Produktion in keinem Moment, auch bei der unwiderstehlich attraktiven Vishneva nicht, jene elektrisierende Hochspannung erlebte, wie wir sie von Crankos „Onegin“ gewohnt sind.
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