Keine Erdbeeren für Lenski

Egon Madsen inszeniert einen „Rückblick“

Stuttgart, 17/02/2011

Die Hälfte der Festwochen ist rum, die Augenringe werden immer dunkler und die Stimmung immer ausgelassener – Ballettchef Reid Anderson fühlte sich nach dem Wochenende mit Ballettdirektorenkonferenz, zwei fünfstündigen Galas und dem großen Alumni-Treffen „wie vom Lastwagen überfahren“, was ihn nicht daran hinderte, mit vielen ehemaligen Stuttgarter Tänzern, unter ihnen auch Jiří Kylián, beim dritten „Rückblick“ im Kammertheater im Publikum zu sitzen. Egon Madsen bestritt diesen Abend im Kammertheater tatsächlich ganz alleine, assistiert einzig von George Bailey am Klavier und dem jungen Eleven Clemens Fröhlich, der mit seiner Handkamera nicht nur Madsens alte Fotografien aufnahm und für die Zuschauer an die Wand warf, sondern am Anfang des richtiggehend inszenierten Abends den Tänzer zum Kammertheater hinauf begleitete, vorbei an den Bildern aus Crankos Zeiten. Madsen schleppte einen Koffer, aus dem er dann nach und nach seine Erinnerungen holte. „So kam ich nach Stuttgart, mit einem Koffer und einem Teddybär. Und so sah ich aus!“ – er hielt einen Bleistift hoch.

Tatsächlich war er ein wenig schmächtig, der blonde junge Däne, der übers „Dänische Kinderballett“ und das professionelle Pantomimentheater in Kopenhagen 1961 nach Deutschland kam. Anhand zahlreicher Fotos und kleiner Filmausschnitte erzählte Madsen von früher, mit herrlich trockenem Witz und einer Selbstironie, die unter Tänzern ihresgleichen sucht. Da ging es nicht um die sonst üblichen Karriereschilderungen à la „dann bekam ich den Siegfried und wurde Solist“, sondern es ging um zerrissene Umhänge, zickige Ballerinen, vermasselte Aufführungen oder zu laute Inspizienten, es ging um das Entstehen komischer Rollen und all die glücklichen Momente in der Zusammenarbeit mit John Cranko. Madsen erzählte von seinen allerersten Rollen in Stuttgart, deren Schritte er jeweils auch gleich vortanzte oder höchst anschaulich mimte: den Kutscher in „Lady and the Fool“, Graf Paris in „Romeo und Julia“ („der Pas de deux mit Julia ging damals sehr schnell, rauf-runter, weil ich keine Muskeln hatte“), schließlich „Schwanensee“, als er die Hand von Anita Cardus nicht zu fassen bekam und Odette auf dem Boden landete, was er mit viel Schwanengeflatter vorführte.

Dekoriert war das Kammertheater mit Unmengen seiner alten Kostüme, nicht nur die bekannten wie der Joker aus „Jeu de Cartes“, Gremio oder Lenski (die er alle kreiert hat), sondern auch aus ganz alten Stücken wie John Crankos vergessenem „Nussknacker“, dessen szenische Verwandlung von Schwarz nach Weiß Madsen anschaulich schilderte: selbst der Boden wechselte die Farbe. Als Cranko ihn bei den ersten Proben zu „Der Widerspenstigen Zähmung“ einen weiten Umhang holen ließ, sei er stolz gewesen: „Ich dachte an Albrecht, Romeo, Romantik, Glanz...“. Bis ihm der Choreograf erklärte, dass er bei seinem dritten Schritt auf der Bühne darüber stolpern werde: „Schon wieder eine von diesen komischen Rollen“. Aber man müsse den schusseligen Freier „ganz ernsthaft aufbauen“ und keinen Blödsinn daraus machen – auch wenn Madsen öfters gefragt wurde, wie er wohl diese komischen Pfeiftöne mache (sie kommen natürlich vom Flötisten).

Gemeinsam mit Jiří Kylián oder John Neumeier, die damals Hortensio tanzten, saß Madsens Gremio dann so häufig auf dem kleinen Bänkchen links, dass man anfing, sich die Zeit während des Pas de deux von Bianca und Lucentio irgendwie zu vertreiben – eines Tages holte er eine Pralinenschachtel hervor, versonnen naschend sahen die beiden Freier dann dem Liebespaar zu. Immerhin schickte Madsen dafür ein „Sorry, John“ gen Himmel. Als die große ABT-Ballerina Gelsey Kirkland in Stuttgart gastierte, prallten zwei Welten aufeinander: die äußerst sensible und laut Madsen nicht gerade einfache Künstlerin fragte bei jedem Schritt, warum das so gemacht werde („Because it’s the cho-re-o-gra-phy!!!“), bis ihr Partner entnervt drohte, nicht mehr mit ihr zu tanzen. Da in Stuttgart nie markiert, sondern auch bei Proben voll ausgetanzt wird, küsste Madsen sie beim Balkon-Pas-de-deux entsprechend herzhaft - worauf Fräulein Kirkland heulend aus dem Saal rannte.

Anschaulich führte der 68-Jährige vor, wie man den Schwarzen-Schwan-Pas-de-deux tanzt, wenn bei der Tarantella zuvor die ganzen Perlen von einem Kostüm abgeplatzt sind („da-daa, kick! da-daa, kick! rammta-dadaaa“). Einmal interpretierte Madsen voll Inbrunst das Solo des verzweifelten Lenski in „Onegin“ (auch während er diese Anekdote erzählte), kniete immer wieder nieder und streckte die flehenden Arme zur Erde, nur um in dem Moment aus den Kulissen diesen Kommentar zu hören: „Schon wieder keine Erdbeeren da“. Das war Gerd Praast, ehemaliger Tänzer am Staatstheater und später Inspizient. „Be careful, it’s real“, riefen die Tänzer gerade noch rechtzeitig Anita Cardus zu, als sie sich das Messer in „Romeo und Julia“ in den Bauch rammen wollte, nicht wissend, dass man statt des kaputten Theater-Klappmessers ein echtes aus der Kantine geholt hatte.

Ohne dass Madsen es ständig ansprach, wurde immer wieder der familiäre Zusammenhalt in Crankos Kompanie deutlich; alle hätte sich gegenseitig aufgebaut, wenn man auf den Tourneen endlose viele Aufführungen bestreiten musste („Wir waren schon wie Maschinen: zehn Pfennig rein und wir haben getanzt“). Marcia Haydée, die am Schluss aus dem Publikum geholt wurde, schimpfte auf „diesen Film“, wo die Zweitbesetzung die Erstbesetzung hasse – gemeint war natürlich „Black Swan“. Das sei in Wirklichkeit nicht so, Madsen und Richard Cragun seien immer Freunde gewesen, hätten einander stets geholfen. Nach Crankos Tod hätte Maurice Béjart ihr als Hilfe seine sämtlichen Werke angeboten – sie hätte sich die „Lieder eines fahrenden Gesellen“ für Egon und Ricky gewünscht, die einzigen Interpreten, die laut Béjart wie „Yin und Yang waren: eine Einheit“. „Der Egon ist eigentlich mein Bruder“, sprach Cragun, der inzwischen ebenfalls auf dem Sofa saß, genau wie Ray Barra, der, angesprochen auf „Las Hermanas“, spontan einen besonders erotischen Schritt vortanzte. Und schon war man wieder mittendrin in den Erinnerungen an Crankos Zeit.

Madsen, der nach kurzen Amtszeiten als Ballettdirektor in Frankfurt, Stockholm und Florenz als Ballettmeister nach Stuttgart zurückkehrte, sprach über die damaligen „Veränderungen“, für die er nachträglich dankbar sei, denn sie hätten zu seinem Weggang geführt und damit 1999 zum NDT III, wo er dann nach langen Jahren plötzlich wieder auf der Bühne stand – es folgten herrliche Filmausschnitte aus Kyliáns „Birth-Day“ mit dem spiegelfechtenden Madsen und Meryl Tankards „Merryland“, wo er all seine Todesszenen noch einmal im Zeitraffer aufführt. Heute tanzt er wieder oder immer noch in Stuttgart, mal bei Eric Gauthier im Theaterhaus und mal als umjubelter Gala-Gast im Opernhaus.

„Morgen fahr ich nach Italien zu meiner Frau und dem Garten und den Hühnern… und kucke nach vorne!“, strahlte Madsen zum Schluss, ein rundum zufriedener und in sich ruhender Mensch. Am 26. Februar erhält er in Essen den deutschen Tanzpreis, auch dort dürfte heftig gelacht werden.

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