Eine Geschichte der Begierde

Cranko, van Manen und Béjarts „Bolero“ beim Stuttgarter Ballett

Stuttgart, 17/01/2011

Was für ein Auftakt zum großen Ballettfestival im Februar! Fast auf den Tag genau 50 Jahre, nachdem John Cranko am 16. Januar 1961 sein Amt als Ballettdirektor in Stuttgart antrat, läutet ein grandioser Ballettabend das Jubiläum ein, der die „Initialen R.B.M.E“ des Gründervaters mit einer Erstaufführung des Holländers Hans van Manen und der heiß ersehnten Wiederaufnahme von Maurice Béjarts „Bolero“ kombiniert. Damit besinnt sich Ballettintendant Reid Anderson auf die zwei großen Choreografen, die seine Vorgängerin Marcia Haydée in den 80er Jahren für die Kompanie entdeckt hatte. Er hat gleichzeitig Stücke ins Repertoire geholt, die seinen Tänzern neue Stilnuancen, neue Entwicklungsmöglichkeiten aufzeigen – und eine choreografische Qualität, die den Uraufführungen der letzten Zeit doch öfters fehlte.

Zum zweiten Klavierkonzert von Brahms, nicht immer ganz lupenrein gespielt von Glenn Prince, stieß Cranko 1972 auf das Gebiet vor, das eigentlich George Balanchines Spezialität war: das große konzertante Ballett. Seine Geometrie erscheint dabei lange nicht so perfekt und klar wie beim amerikanischen Meister der Neoklassik – manchmal verschwinden zwei Mädchen in die Kulissen, weil die Reihe nicht ganz aufgeht, Crankos Strukturen konzentrieren sich auf die verschiedensten Arten von Diagonalen statt auf Balanchines gespiegelte Mittelachse. Wo der alles kristallklar hinzirkelt, da lässt Cranko den einzelnen Tänzer erstrahlen, bis hinein ins Corps de ballet. Selbst ein konzertantes Ballett choreografierte er wärmer und menschlicher, der Humanist gegen den reinen Logiker. So virtuos und leichtfüßig das technisch äußerst anspruchsvolle Werk heute bis in die kleinste Rolle getanzt wird: Ein Spiegel der vier ursprünglichen Initialen ist es nicht mehr.

Der jeweilige Charakter der vier Sätze ist verwischt, was man den heutigen Solisten vielleicht gar nicht vorwerfen kann – weder dem virtuosen Filip Barankiewicz, der das Tempo seiner Pirouetten noch einmal beschleunigt hat und doch in manchen rasanten Sprungkombinationen an die Grenzen seines Könnens stößt (wie gut muss Richard Cragun gewesen sein, als er so strahlend durch diese Höchstschwierigkeiten segelte!). Auch nicht Alicia Amatriain, deren moderner Ballerinentypus weit entfernt ist von der strahlenden Eleganz Birgit Keils, oder der sonst so seelenvollen Sue Jin Kang. Sie wirkte in der Wiederaufnahme fast ein wenig fahrig und kommt nicht gegen die Erinnerung an Marcia Haydées Intensität an (oder gegen das Bild von Bourrées, die so sanft dahinflossen, als wären Haydées Fußgelenke so beredt wie ihre Handgelenke). Jason Reilly ist zwar der perfekte Partner für die langen, engelhaften Schwebeflüge des dritten Satzes, tanzt sein Anfangssolo aber eher routiniert als empfindsam. Am leichtesten hat es noch Alexander Zaitsev im vierten Satz, der mit seinen kleinen, sauberen Schrittkombinationen so leicht und mühelos durch die Reihen fliegt.

Mit Ovationen gefeiert wurde Hans van Manen, mit seinen 78 Jahren der letzte einer großen Choreografen-Generation, und gleichzeitig der modernste. Seine fünf Jahre alten „Frank Bridge Variations“ schreiben die Neoklassik direkt ins 21. Jahrhundert fort, ausgestattet in Keso Dekkers unnachahmlicher Noblesse mit dunkelgrün und weinrot changierenden Trikots. Alle Solisten sind Einzelgänger, Paare finden sich nur auf Zeit und immer in argwöhnischer Distanz, manchmal gar mit einer unterschwelligen Aggression, kondensiert in der typischen Geste der mit einer „Was willst Du denn?!“-Bewegung in die Höhe geworfenen Arme. Es ist ein stilvoller, ja stilisierter Tanz, der immer dezent die Herren bevorzugt, effizient und ohne Zierkram, leicht und doch scharf auf den Punkt, in Bewegungen von flüssiger, unnahbarer Eleganz. Die Coolness für diesen eher minimalistischen Stil bringt vor allem van Manens holländischer Landsmann Marijn Rademaker mit, auch Jason Reilly jagt mit einer lächelnd-erhabenen Schnelligkeit durch sein Solo. Schwieriger wird es bei den Frauen: Während Maria Eichwald alles eine Spur zu gut machen will und darüber die ironische Distanz vergisst, tanzt Katja Wünsche nicht prägnant genug. Drei Paare des Corps de ballet hatten den typischen van-Manen-Stil fast besser drauf.

Es war einmal ein Prinz, und dann wurde ein großer Tänzer aus ihm: Friedemann Vogel, der einzige Stuttgarter unter Reid Andersons Tänzern, wird von Jahr zu Jahr immer noch besser. Dafür hat ihm sein Intendant nun genau das richtige Ballett geschenkt: Maurice Béjarts „Bolero“, uraufgeführt vor ebenfalls genau 50 Jahren im Januar 1961 in Brüssel. Kein Ballett, sondern ein Ritual, nach dem jeder klassische Tänzer dieser Erde lechzt und das nach einer Abwesenheit von zwanzig langen Jahren (das fade Gastspiel des Tokio-Balletts zählt nicht) vom Stuttgarter Publikum mit einem Jubelschrei wie aus einer Kehle begrüßt wurde. Der Solist auf seinem roten Tisch, durch einzelne Lichtstrahlen aus dem Dunkel herausgeleuchtet, das sich dann nach und nach über einem Kollektiv männlicher Oberkörper und wippender Hüften lichtet, das alles verströmt noch immer die pure Sinnlichkeit. Auch wenn nun der Einheitslook der Kostüme – früher trug jeder Tänzer ein anderes Accessoire zu seiner schwarzen Hose, ein Hemd oder eine Tuch um den Hals – die Atmosphäre steriler macht, sie vom Tanz in einer Bar, wie bei Bronislawa Nijinskas Uraufführungs-Choreografie im Jahr 1928, nun ins Abstrakte und Stilisierte verschiebt.

Der Bolero ist nicht nur „eine Geschichte der Begierde“, wie Béjart in seinen Memoiren schreibt, er ist auch ein philosophisches Ballett und zelebriert den ewigen Dialog von Melodie und Rhythmus, von Kontrolle und Ekstase, des Einzelnen gegen die immer drängendere Menge. Vogel, der mit seinem wilden Blondhaar optisch fast an Jorge Donn erinnert, einen der größten „Bolero“-Interpreten, bleibt anfangs ein wenig zurückhaltend, fast misstrauisch dem insistenten Rhythmus gegenüber. Aber das ist nur der Beginn einer langsamen, erst kontrollierten und dann berauschten Steigerung vom Hohepriester zum Verführer, vom klassisch gezähmten Tänzer zum wilden Beschwörer, der den schlussendlichen Übergriff der Menge auf ihn so unnahbar wie lasziv heraufpeitscht, bis sie ihn mitsamt seinem fordernden, wissenden Lächeln unter sich begräbt. Zum vollkommenen Béjart-Glück fehlen der Kompanie jetzt noch die „Lieder eines fahrenden Gesellen“, passende Interpreten gäbe es zur Genüge. Vielleicht hat Gil Roman ein Einsehen. Unbeeindruckt von der großen Kunst, die sich auf der Bühne des Opernhauses ereignete, zeigte sich allein das lustlose Staatsorchester unter James Tuggle. Ansonsten wäre John Cranko wahrscheinlich sehr stolz auf das, was seine Nachfolger aus seiner Kompanie gemacht haben.

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