Endlosschleife mit Erotik-Faktor

Die weiteren Besetzungen des Cranko/Béjart-Abends

Stuttgart, 29/06/2011

Irgendwann in der achten, neunten Aufführung dachte man: jetzt haben sie’s. Endlich schwebte das Corps de ballet in schönster Ordnung durch seine versetzten Reihen, der Klavierpart klang ausnahmsweise fast fehlerlos, selbst das Staatsorchester schien sich, inspiriert von Wolfgang Heinz, entfernt an seine eigentliche Klasse zu erinnern. Es blieb bei der einen Aufführung. John Crankos „Initialen R.B.M.E“ sind vertrackt zu tanzen, das hat die derzeitige Einstudierung beim Stuttgarter Ballett mit anhaltenden Koordinationsproblemen im Corps de ballet und wenig charakterstarken Besetzungen der vier Protagonisten auch in den Folgeaufführungen deutlich bewiesen.

Arman Zazyan, neu im Kopfsatz des Brahms-Balletts, überraschte zunächst durch die Attacke und Freude, mit der er sich in sein erstes Solo stürzte – da sah man förmlich Richard Craguns strahlende Zuversicht wiedererstehen. Bald allerdings verdrängt russische Präzisionsarbeit die amerikanische Lockerheit; Zazyan tanzte alles klassisch korrekt, doch seiner Interpretation fehlte der Fluss. Der nächste Debütant Alexander Jones entzückte mit butterweichen, endlosen Drehungen, der Brite hat auch die Höhe seiner Sprünge deutlich verbessert. Die schöne Phrasierung und ein natürliches Lächeln sind bei diesem intelligenten Tänzer selbstverständlich, dennoch ist auch er nicht der sorglos dahinsegelnde Virtuose, den dieser Satz eigentlich verlangt. Natürlich hat Cranko die ganz persönlichen Eigenschaften seiner vier damaligen Solisten in sein Ballett hineinchoreografiert, sonst hätte er sie nicht im Titel verewigt und einen anderen Namen gewählt.

Marcia Haydées dritter Satz immerhin bekam mit Myriam Simon und Evan McKie seine Geschichte zurück, wurde durch ihre schönen Arme und sein elegisches, tief empfundenes Anfangssolo zum traurigen Gesang. Beide interpretierten das innige Andante wirklich als Paar, während bei Alicia Amatriain (so sehr sie auch neuerdings auf ihre Manierismen verzichtet) und Nikolay Godunov stets klar blieb, wer die Solistin ist und wer der Träger. Während Marijn Rademaker im vierten Satz durch die Bournonville’sche Akkuratesse seiner leichten Sprüngen erfreute (wahrscheinlich spielt Crankos Choreografie sogar auf Egon Madsens dänische Herkunft an), beeindruckte William Moore durch seine weiten Höhenflüge, durch den schönen Ballon seiner Sprünge; nach ein paar Aufführungen hatte er dann auch das rasante Tempo verinnerlicht. Die zahlreichen Demisolorollen des konzertanten Balletts gaben vor allem den jungen Damen der Kompanie Gelegenheit, ihre Technik funkeln zu lassen: Rachele Buriassi, die so strahlend sicher und in sich ruhend ihre Linien zieht, Hyo-Jung Kang mit ihrem leichten, feinen Bewegungsstil, oder der exquisiten und bis ins Detail ausziselierten Elisa Badenes mit ihren vom Boden wegschnellenden, hohen Sprüngen. Da keimt Hoffnung auf, neben Maria Eichwald endlich mal wieder ein paar wirklich virtuose Tänzerinnen in Stuttgart bewundern zu können. Hans van Manens „Frank Bridge Variations“ wurden von der zweiten Besetzung fast noch besser als von der ersten interpretiert, vor allem von Evan McKie und William Moore: hochmusikalisch, leicht, schnell und doch prägnant, mit genau der richtigen Spannung, dieser feinen, unterschwelligen Aggression und einem Hauch Ironie. Hyo-Jung Kang betonte mit ihrem feinen, geschmeidigen Gleiten die klare Eleganz dieses Bewegungsstils, während Bridget Breiner zu den expressiveren Van-Manen-Tänzern gehört.

Mit jedem „Bolero“ wurde der Rhythmus dominanter – will sagen: die 18 Herren, die um den roten Tisch tanzten und von Mal zu Mal ihre Posen erhabener einnahmen, die Hüften unerbittlicher kreisen ließen; man kann die britisch-amerikanischen Vorbehalte gegen den zu krassen Erotik-Faktor von Béjarts Choreografie ja durchaus verstehen... Die Kunst besteht darin, diese Sinnlichkeit auf ein philosophisches Niveau zu heben, sich dort oben in eine Art dionysischen Rausch zu tanzen. Alle vier weiteren Solisten auf dem roten Tisch aber kämpften noch mit der Choreografie, anstatt sich in ihr zu verlieren. Anstelle des trance-artigen Lächelns, des in die Ferne gerichteten Blicks sah man in ihren Gesichtern die Konzentration, die Bewegungen zur Endlosschleife der Musik in die richtige Reihenfolge zu bringen und mit dem wippenden Becken den Takt zu halten. Manchen ging auch die Kraft aus, die Sprünge waren nicht mehr hoch, der „Bolero“ wirkte einstudiert, zerfiel in Einzelteile und Sequenzen. Es fehlte der große Bogen, die langsame und unausweichliche Steigerung. Während Alicia Amatriain die um den Tisch tanzenden Männer etwas zu direkt anmachte, schien Jason Reilly zunächst gar keinen Kontakt zu ihnen aufzunehmen; seine zweite Aufführung aber war schon wesentlich wilder, da lauerte das Tier in seinen Augen. Amatriain wie auch Anna Osadcenko fehlt es an Persönlichkeit, an Faszinationskraft für den Part der einsamen Hohepriesterin, die das Untergehen im Kollektiv als die finale Ekstase herbeitanzt. Osadcenko bewegte sich weich und fließend, sie setzte keine harten Akzente in das elegante Ritual, warf den Kopf nie ganz in den Nacken und die Arme nie ganz nach hinten. Sie verlor sich nicht an den Rhythmus, sondern behielt immer die Kontrolle – das wirkte kühl statt erotisch und blieb im Endeffekt fast nüchtern. Auch Marijn Rademaker, von dem man sich wesentlich mehr erhofft hatte, lernte hier seine Grenzen kennen: Den Armbewegungen fehlte die zeichenhafte Prägnanz, es sah weich aus und schlängelte an manchen Stellen viel zu feminin, der ständig leicht geöffnete Mund wirkte gar etwas ratlos.

Stuttgart, das merkt man erst im Nachhinein, war verwöhnt von den zahllosen früheren Aufführungen (die Spielzeit 1987/88 etwa verzeichnet 31 „Boleros“!). Denn jede(r) der fünf damaligen Interpreten Marcia Haydée, Richard Cragun, Benito Marcelino, Randy Diamond und Catherine Batcheller hatte seine eigene Magie, seine ganz eigene Kunst der Verführung, ganz zu schweigen von Jorge Donn und seiner so viel freieren Deutung des Werks; er war 1986 zu Gast. Das ist alles über zwanzig Jahre her, ein neues Publikum feierte nun jeden „Bolero“ mit dem kollektiven Aufschrei des ganzen Hauses. Mit jedem neuen Versuch aber wuchs die Bewunderung für die jetzige Erstbesetzung Friedemann Vogel, Béjarts faszinierendes Ritual auf Anhieb derart verinnerlicht zu haben, sich derart loslassen und verlieren zu können.

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