Abschluss einer Ära
Mit den Hamburger Ballett-Tagen endet die Intendanz John Neumeiers
John Neumeier hat „Liliom“ von Ferenc Molnár für das Ballett adaptiert
Ein Stück mag schon etwas Besonderes haben, wenn bei jeder Präsentation bisher der Notarzt gerufen werden muss. Bereits als John Neumeier seine jüngste Kreation „Liliom“ bei der Ballett-Werkstatt am 20. November vorstellte, wurde ein Zuschauer ohnmächtig. Und auch bei der Uraufführung am gestrigen Sonntagabend durchbrach der Ruf aus dem Parkett ausgerechnet die Schlussszene: „Einen Arzt, schnell einen Arzt!“ Tatsächlich ist dem Hamburger Ballettintendanten wieder einmal ein Stück gelungen, das zu Herzen geht, für manchen offenbar zu sehr.
„Liliom“ – das ist die tragische Geschichte des gleichnamigen Jahrmarktausrufers. Der ungarische Schriftsteller Ferenc Molnár hat es geschrieben, 1909 wurde es in Budapest uraufgeführt, später kam es unter dem Titel „Carousel“ als Musical am Broadway heraus, 1930 wurde es verfilmt. Neumeier verlegt die Handlung in diese Zeit, in das USA der 1930er Jahre, mitten hinein also in die Phase der großen wirtschaftlichen Depression, Millionen waren damals arbeitslos. In solchen Situationen ist der Jahrmarkt eine willkommene Abwechslung – in der Glitzerwelt kann man das Elend um sich herum eine Zeitlang vergessen. Auch auf die Kellnerin Julie und ihre Freundin Marie übt dieses „Playland“ eine magische Anziehungskraft aus. Liliom, Ausrufer am Karussell von Frau Muskat, ist dort die Attraktion – charmant, männlich, draufgängerisch. Die Frauen, allen voran Frau Muskat selbst, liegen ihm scharenweise zu Füßen. Als Liliom Julie begegnet, springt ein Funke über, es ist sofort etwas Magisches zwischen den beiden, eine schicksalhafte Anziehungskraft – Liebe. Frau Muskat erkennt das sofort und erteilt Julie eifersüchtig Hausverbot. Liliom will das nicht zulassen und im Streit schmeißt Frau Muskat ihn raus.
Arbeitslos und arm kann Liliom nicht für Julie und das gemeinsame Kind, das sie alsbald erwartet, sorgen. Aus Frust darüber schlägt er sie und gerät auf die schiefe Bahn. Er beteiligt sich an einem Raubüberfall, und noch ehe er verhaftet werden kann, tötet er sich selbst. Nach 16 Jahren Fegefeuer darf er als Bettler verkleidet für einen Tag zurück auf die Erde, um Wiedergutmachung zu leisten für seine Missetaten. Er klaut einen Stern vom Himmel, um ihn seinem Sohn zu schenken. Aber das Kind fremdelt, es erkennt den Vater natürlich nicht und erwehrt sich seiner Zärtlichkeit. Wieder rutscht Liliom die Hand aus, und so führen ihn die himmlischen Aufpasser sofort wieder ab. Das Kind jedoch fragt verwundert seine Mutter, wie es wohl sein könne, dass so ein Schlag gar nicht schmerzhaft sei. Und Julie antwortet: „Ja, es ist möglich, mein Kind, dass einen jemand schlägt, und es tut gar nicht weh.“
Im Zentrum von Neumeiers Ballettadaptation des Stückes steht das Mysterium einer Liebe zwischen zwei ungleichen Menschen. Liliom kann Julie seine Liebe nicht zeigen, nicht zugeben, nicht in Worten sagen. Er „repräsentiert eine Figur, die in ihrer Jugend und Kindheit nicht die Form einer bedingungslosen Liebe erfahren hat“, sagt Neumeier in einem sehr lesenswerten Gespräch mit André Podschun, das im Programmheft abgedruckt ist. Er habe Angst, alles zu verlieren, wenn er offen zu dieser Liebe stehe. Sein einziger Halt bestehe darin, sie nicht zuzugeben, weil er sich sonst verletzlich machen würde, und das ertrage er nicht. Er schlägt Julie nicht, weil er sie demütigen oder quälen will. Er ist vielmehr wütend über seine eigene Hilflosigkeit, über seine Unfähigkeit, für Julie zu sorgen, ein normales Leben zu führen – Halt gibt ihm nur die Scheinwelt des Jahrmarktes, da ist er der King. Aber es ist eben eine Scheinwelt, aufgesetzt, irreal. Erst als Liliom erfährt, dass er Vater wird, fällt alle übertriebene Macho-Allüre von ihm ab, wird er für einen flüchtigen Moment ganz weich, zart, nachdenklich, verletzlich. Julie dagegen ist bereit, für diese Liebe alles hinzugeben. Sie will nichts anderes als mit diesem Mann leben, bei ihm sein, den Alltag mit ihm teilen. Aber auch sie kann ihre Liebe im realen Leben nicht eingestehen, sondern erst, als Liliom tot ist. Dennoch ist sie sich ihrer Liebe bewusst, sie hat keine Angst davor, im Gegenteil, sie ist bereit, alles dafür hinzugeben, sie weiß: so liebt sie nur einmal in ihrem ganzen Leben. Bei aller Zartheit ist Julie eine sehr starke Frau, und Liliom bei aller Kraftprotzerei ein eher schwacher Mann.
Es ist das große Geschenk des Abends, dass diese beiden tragenden Rollen mit zwei Tänzern besetzt sind, die darin mit Haut und Haaren, mit Kopf und Herz, mit allem, was sie sind, ganz und gar aufgehen. Carsten Jung als Liliom hat die „Rolle seines Lebens“ gefunden, wie Neumeier selbst in der Premierenfeier sagte, er entwickelt hier einen darstellerischen Facettenreichtum, wie man ihn bei ihm noch nie gesehen hat. Alina Cojocaru schenkt ihrer Julie eine ergreifende Schlichtheit und eine magische innere Kraft, die sich bruchlos von der Bühne bis in den 4. Rang überträgt. Beide haben Neumeier zu Pas de Deux inspiriert, die ihre Faszination oft weniger aus den Schritten selbst als aus der Spannung zwischen Ruhe und Bewegung beziehen. Neumeier lässt seine Figuren atmen – nicht nur die Hauptrollen, sondern auch jede andere in diesem Werk.
Es ist nichts Aufgesetztes in dieser Choreographie, nichts Effekthascherisches. So rein und tief wie diese Liebe, aber auch so zerrissen, so sprachlos, so hilflos, sind die Gesten im Tanz. Alina Cojocaru und Carsten Jung vermögen es meisterhaft, diese Spannung in allen Phasen durchzutragen, zu halten und zudem noch eine virtuose Technik zu entfalten – das verschlägt einem nicht nur einmal an diesem Abend den Atem. Um die Tragik dieser beiden herum inszeniert Neumeier alles andere: Frau Muskat, die Anna Polikarpova nie ordinär überzeichnet, ihr aber auch die nötige Deftigkeit verleiht, die eine solche vom Leben geprüfte Schaustellerin nun einmal braucht. Julies Freundin Marie (blitzsauber und jugendlich, aber später auch wunderbar arrogant: Leslie Heylmann) und ihren Freund und späteren Emporkömmling Wolf, dem Konstantin Tselikov das passende Profil verleiht. Julies Sohn Louis, den Neumeier als Alter Ego Lilioms versteht (in Molnárs Stück ist es ein Mädchen, Louise), höchst expressiv getanzt von Aleix Martínez. Den Mann mit den Luftballons, der als eine Art spirituelle Leitfigur von Anfang bis Schluss die Fäden zieht – Sasha Riva zeigt hier eine ganz eigene, ebenso zurückgenommene wie für sein Alter erstaunlich souveräne Bühnenpräsenz. Ficsur, den fiesen, kleinen Gangster, der Liliom zu dem fatalen Raubüberfall verleitet, und dem Lloyd Riggins als Ersatz für den erkrankten Dario Franconi eine so widerliche Verschlagenheit einhaucht, dass man sich sekundenlang fragt, ob er es wirklich ist, hat man ihn doch selten in einer so unsympathischen Rolle gesehen. Den Matrosen, mit dem sich Liliom eine Rauferei liefert, weil er Julie belästigt – Kiran West brilliert in dieser kleinen, aber sehr feinen Rolle. Den Konzipisten im Jenseits, dem ein glatt gegelter Edvin Revazov eine grandiose gebieterische Dominanz schenkt, die man nie und nimmer von ihm erwartet hätte. Die sechs Teufel in knallroten Samtanzügen, die Liliom im Fegefeuer schmoren lassen. Und natürlich den Rummelplatz mit seiner schillernden Vielfalt mit Gauklern und Clowns, Exoten und Jongleuren.
Ferdinand Wögerbauer hat dazu ein Bühnenbild erschaffen, das sich nie in den Vordergrund drängt, sondern dem Geschehen immer einen maßgeschneiderten Rahmen gibt, in dem es sich voll entfalten kann. Und doch wäre das alles längst nicht so eindrucksvoll, wenn da nicht diese unglaubliche Musik wäre, eigens für diese Ballettversion geschrieben von Michel Legrand, bekannt durch seine mehrfach oscar-gekrönten Filmmusiken („Yentl“, „Thomas Crown ist nicht zu fassen“, „Windmills of your mind“). Er stellt dem Philharmonischen Staatsorchester die NDR-Bigband zur Seite, die auf der Bühne über dem Playland-Areal platziert ist, wie ein Zirkusorchester auf einer Tribüne. Jazziger Swing charakterisiert vor allem alle Playland-Szenen, Orchester-Besetzung die anderen, mal zurückgenommen, mal mit viel Volumen. Der Liebe zwischen Julie und Liliom hat Legrand eine schmelzend schöne kurze Tonfolge geschenkt, die ebenso zart wie kraftvoll gespielt werden kann. Es ist eine Musik, die Sehnsucht atmet und Erfüllung zugleich, die erdet, aber auch alles offen lässt, schwebt, fliegt, verweht. Simon Hewett am Pult hat sowohl die Musiker im Graben wie auch auf der Bühne gleichermaßen im Griff und sorgt für bruchlose Übergänge – das ist ganz große Dirigierkunst.
Was mag die wenigen Buhs für Neumeier begründet haben, die sich beim Schlussbeifall durch den ansonsten grenzenlosen Jubel stahlen? Natürlich bleibt Neumeier sich selbst und seiner Linie treu – er ist und bleibt ein eher konservativer Choreograf mit einer für ihn typischen Bewegungssprache. Er verzichtet bewusst auf den Einsatz von Videos oder anderen elektronischen neuen Medien und konzentriert sich ganz auf den Tanz. Wie vielfältig er diesen jedoch zu variieren weiß (z.B. in der Charakterstudie von Frau Muskat, in den Soli von Julie, in dem Pas de Deux von Julie und Liliom auf der Bank im Park, in der großen Männerszene der Arbeitssuchenden), erschließt sich meistens erst nach mehrmaligem Schauen. Gerade in unserer schnelllebigen Zeit hat diese Form des Konservativen etwas angenehm Verlässliches, sie ist eine Konstante, in der Raum bleibt für das Wesentliche: sich einzulassen auf die Gefühlsebene, die jedes Neumeier-Stück durchzieht und die immer wieder die Liebe thematisiert, in allen nur denkbaren Variationen. Wer nicht bereit ist, sein Herz zu öffnen und aufnahmebereit zu sein für diese verschiedenen Seelenebenen, wird in vielem nur das konservative Element sehen, wird manches als Kitsch abtun und die eigentliche Tiefe verpassen. Denn damals wie heute gibt es nur allzu viele Biographien wie die von Julie und Liliom – und nicht zuletzt diese Zeitlosigkeit ist es, die das Stück so aktuell und so sehenswert macht.
Weitere Vorstellungen am 6., 10., 19. und 20.12 sowie am 5. und 6.1.2012, und dann noch einmal am 28.6. im Rahmen der Ballett-Tage
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