Spitze, Kralle, Huf und Holzschuh
Frederick Ashtons „Fille mal gardée“ im Londoner Royal Opera House
Gemischter Ballettabend mit Ashton, Bintley und Marriott
Drei Werke englischer Choreografen präsentierte das Royal Ballet in dem nur sechs Vorstellungen umfassenden Ballettabend „Rhapsody/Sensorium/Still Life at the Penguin Café“. Zwei davon keine Unbekannten: Frederick Ashton, Begründer des „englischen Stils“ nach Ninette de Valois, war mit seiner pièce d’occasion „Rhapsody“ vertreten, die er 1980 anlässlich des 80. Geburtstags der Queen Mother schuf, und David Bintley zeigte seinen phantasievollen Publikumserfolg „Still Life at the Penguin Café“ aus dem Jahr 1988. Dazwischen hatte Alastair Marriotts vor zwei Spielzeiten uraufgeführtes, eher impressionistisch-introvertiertes Ballett „Sensorium“ zu teilweise orchestrierten Debussy-Préludes es schwer, sich zu behaupten. Nach Ashtons virtuosem Feuerwerk gleitet das an Bade- und Unterwasserszenen erinnernde, ganz in Hellblau und Weiß gehaltene Stück traumähnlich dahin. Zäsuren bilden die beiden Pas de deux zwischen Marianela Nuñez und Gary Avis sowie Leanne Benjamin und Thomas Whitehead. Letzterer enthält einige originelle Hebungen, beispielsweise wenn Whitehead die noch im Sprung begriffene Benjamin im Kreis herumwirbelt, oder wenn sie zum Schluss kopfüber am Hals ihres Partners hinabhängt. Dennoch: von hier ist kaum eine Wiederbelebung oder gar Erneuerung des „englischen Stils“ zu erwarten, der sich trotz kreativer Köpfe wie Christopher Wheeldon oder Wayne MacGregor immer mehr zu verlieren droht.
„Rhapsody“ hingegen zeigt die junge Tradition der Kompanie in seiner schönsten Form: dieses Spätwerk Ashtons enthält eine ganze Palette von Kostproben seines choreografischen Erfindungsreichtums. Die Inspiration lieferten ihm Rachmaninovs Paganini-Variationen sowie der Tänzer, für den er das Stück schuf: Michail Baryschnikow. Jessica Curtis Ausstattung, weiß-orangene Trikots und fließende Kleider vor einem vielfarbigen, orangegetönten Hintergrund, umhüllt den männlichen Solisten zwar nicht mit derselben goldgetönten Aura, die das ursprüngliche Bühnenbild Baryschnikow verlieh. Doch kann auch hier keiner zweifeln, dass die Männer im Zentrum des Balletts stehen, vom technisch stark geforderten männlichen Corps de Ballet bis zum männlichen Solisten. An diesen stellt das Stück nicht nur geradezu übermenschliche Herausforderungen – unter anderem halsbrecherische Sprungkombinationen und abrupte Richtungswechsel – sondern verlangt auch, dass diese mit der lächelnden Nonchalance gemeistert werden, für die Baryschnikow bekannt ist. Sergei Polunin erwies sich als ideale Besetzung der Rolle und erstaunte mit einigen Sprüngen in Ivan-Vasiliev-Manier. Der erst 21-jährige Erste Solist bewies durch seine höchst vielversprechende Interpretation, dass er mit Recht als aufgehender Stern des Royal Ballet gehandelt wird. Daneben hatte es Laura Morera schwer, ein überzeugendes Gegenstück zu bieten – vor allem die ports de bras wirkten oft hektisch und angespannt. Dafür glänzte sie durch schnelle Beinarbeit - eine Spezialität von Lesley Collier, für die die Rolle kreiert wurde und deren atemberaubende Fußflinkheit man noch heute in einer Royal-Ballet-Aufnahme von Ashtons „La Fille mal gardée“ bewundern kann.
Der Abend schloss mit David Bintleys „Still Life at the Penguin Café”, einem höchst originellen Stück über Artenvielfalt und kulturelle Vielfalt im Allgemeinen zu Musik von Simon Jeffes „Penguin Café Orchestra“. Jeffes Musik macht reichlichen Gebrauch von folkloristischen Elementen und Bintley schuf dazu Tableaux aus verschiedenen Kontinenten, charakterisiert jeweils durch ein ortstypisches, teilweise vom Aussterben bedrohtes Tier. Trotz einiger tänzerischer Leerstellen und obwohl das Thema vielen uneingeweihten Zuschauern wegen einiger abrupter Stimmungswechsel (von beißendem Humor zu beinahe pathetischem Ernst) wahrscheinlich nur vage dämmerte, hat Bintley hier ein Fest der kulturellen Vielfalt geschaffen, in dem jedem Kulturkreis ein Tanzstil entspricht und in dem jedes Tier – ausgestattet mit bestechenden Masken und Kostümen von Hayden Griffin - auch etwas Menschliches hat. Die langbeinige Zenaida Yanowsky wiegt sich als „Utah Longhorn Ram” mit Abendkleid und Stöckelschuhen in den Armen von Gary Avis wie eine gehörnte Ginger Rogers, Liam Scarlett als „Texan Kangaroo Rat“ übt sich wie ein Leichtathlet im Sprint und Weitsprung, Stephen MacRae als „Brazilian Woolly Monkey“ flitzt im Kostüm eines Showmasters über die Bühne und Edward Watson bäumt sich majestätisch als „Southern Cape Zebra” auf, bis er von einem Gewehrschuss erlegt wird. An manchen Stellen sprudelt das Stück vor Humor, vor allem in Iohna Loots grotestkem Tanz als „Humbolts’ Hog Nosed Skunk Flea”, der fünf englische Morristänzer piesackt und dabei selbst um seine Haut fürchten muss. Besonders gelungen ist auch die Eröffnung mit drei Pinguinen im Frack, die als Kellner im halb von Menschen, halb von Pinguinen besuchten „Penguin Café“ geschäftig umherhopsen. Das Ballett endet mit einer hoffnungsvollen Note mit biblischem Anklang, wenn alle Tiere sich in einer Arche Noah zusammenfinden. Möge auch dem englischen Ballett – und dem Royal Ballet, das nächste Spielzeit den Direktor wechselt – ähnliche Rettung beschieden werden!
Besuchte Vorstellung 28.03.
www.roh.org.uk
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