Petticoats und Flügel
Grandioses Birmingham Royal Ballet zu Gast in München
Es ist ein vielfältiges Programm, mit dem das Birmingham Royal Ballet letzte Woche nach seinem Saisonbeginn im Birminghamer Hippodrome im Londoner Sadler’s Wells Theater auftrat: ein farbenfroher Ballettabend mit Choreografien von Petipa, Tharp und Ashton und David Bintleys düsteres, 1995 in Stuttgart uraufgeführtes Stück „Edward II“. Wie bereits früher in diesem Jahr wurde Robert Tewsley, ehemaliger Startänzer des Stuttgarter Balletts, von David Bintley eingeladen, um erstmals als Edward aufzutreten und überdies die männlichen Hauptrollen im dritten Akt von „Paquita“ und in Ashtons „Daphnis and Chloë“ zu tanzen.
„Strictly dancing“ war der Titel des Ballettabends, unter dem das Birmingham Royal Ballet drei völlig verschiedene Stücke präsentierte. In Galina Samsovas Arrangement des dritten Aktes aus Marius Petipas „Paquita“ beweist die Kompanie trotz eines gewissen Mangels an Sankt Petersburger Strenge eine solide klassische Technik. Vor allem Nao Sakuma und Chi Cao als Hauptpaar bestachen durch ihre technische Souveränität, wobei Cao durch eine Serie von Double tours en l’air das Publikum in Begeisterung versetzte. Unter den weiblichen Variationen fiel besonders das ruhige Charisma von Lei Zhao auf, und im Corps machte sich Céline Gittens mit lächelnder Präzision bemerkbar.
Im zweiten Stück, Twyla Tharps 1982 uraufgeführten „Nine Sinatra Songs“, gab es statt Tutus bunte Ballkleider. Die jungen Tänzer schienen sich dabei sichtlich wohlzufühlen und boten eine Serie gelungener Interpretationen, besonders zu den Liedern „Softly as I leave you“ (trotz allzu auffälliger Divergenz zwischen Liedtext und Bühnengeschehen), „Strangers in the Night“, dem humorvollen „Somethin’ Stupid“ und dem spritzig-lebensfreudigen „Forget Domani“.
Zum Abschluss des Abends tanzte die Kompanie erstmals Frederick Ashtons 1951 uraufgeführtes „Daphnis and Chloë“. Asthons Version der Geschichte eines griechischen Schafhirten, dessen Geliebte von Piraten entführt und später vom Gott Pan befreit wird, leidet an einigen – für Ashton untypischen – choreographischen Inkohärenzen: zu häufig und zu abrupt sind die Stilwechsel zwischen antikisierenden Posen, klassischen und moderneren Passagen. Dennoch ist das Stück trotz einiger Längen, die meistens durch Maurice Ravels kompetent von Barry Wordsworth dirigierte Musik gefüllt werden, reich an tänzerisch reizvollen Momenten. So glänzen sowohl Robert Tewsley als souveräner Daphnis als auch Tyrone Singleton als sein Nebenbuhler Dorkon in einem Tanzwettbewerb durch Virtuosität, und wenig später windet sich Angela Paul als perfide Verführerin Lykanion in einem interessanten erotischen Pas de Deux um den intrigierten Daphnis.
Zu den weiteren Höhepunkten zählt Nao Sakumas lyrisch-verzweifeltes Solo als gefangene Chloë – sowohl Tewsley als auch Sakuma gelingt es, ihre etwas eindimensionalen Rollen zum Leben zu erwecken. Die Auflösung sprüht vor Optimismus, unter anderem dank John Craxtons fröhlich-bunter Ausstattung und Peter Teigens glockenheller Beleuchtung. Von einer ganz anderen Seite lernt man die Kompanie wenige Tage später in Bintleys „Edward II“ kennen. Interessanterweise findet sich die in „Daphnis“ erfolgreiche Konstellation Tewsley-Sakuma-Singleton dort wieder, diesmal aber unter entgegengesetzten Vorzeichen. Das Ballett handelt von der von Christopher Marlowe in seinem Stück „Edward II“ beschriebenen Geschichte des gleichnamigen englischen Königs, der nach dem Tod seines Vaters im Jahre 1307 seinen Freund und Geliebten Piers Gaveston aus der Verbannung zurückholt. Durch ihre (bei Bintley) offene Liebesbeziehung brüskieren Edward und Gaveston sowohl Edwards Hof als auch seine Gemahlin Isabella, Schwester des französischen Königs.
David Bintley vermischt in seiner Version Geschichte und Theaterstück und vereinfacht beide, um den Anforderungen der Ballettbühne gerecht zu werden: so verzichtet er beispielsweise auf die komplizierten Verschwörungen um Gavestons Verbannung und Ermordung, wodurch allerdings das Verhältnis zwischen Edward und Isabella an manchen Stellen unklar wird und der Bruch zwischen Edward und seinen Baronen viel früher stattfindet als bei Marlowe. Auch konzentriert Bintley die Geschichte, indem er Leidenschaft beinahe zum einzigen Motor der Geschichte macht, was die Protagonisten manchmal eher wie Rasende als glaubhafte Charaktere wirken lässt – allen voran die ständig wütenden Barone mit ihren schwarzen Langhaarperücken und Ihren Heavy-Metal-Outfits.
Ähnlich wie Kenneth Mac Millans „Mayerling“ beginnt und endet das Stück mit einer Beerdigung: zu Anfang wird Edward I, am Ende Edward II in Präsenz des jeweiligen Sohnes beigesetzt. Doch was in den dazwischen liegenden fast zweieinhalb Stunden passiert, ist eine stufenweise Steigerung bis zum furchtbaren Finale, bei dem trotz der scheinbaren Wiederherstellung der Ordnung ein bitterer Nachgeschmack verbleibt. Wenn Bintley in diesem Stück auch einige Klischees der Männlichkeit und Weiblichkeit, der Homo- und der Heterosexualität aufbaut, so ist es sein Verdienst, viele dieser Klischees hinterher (in manchen Fällen etwas zu sehr) umzudrehen und zu verneinen. Aus der unschuldigen, verachteten Isabella wird eine brutale Rächerin, die nicht einmal vor einer Morddrohung an ihrem eigenen Sohn zurückschreckt, um Edward zur Abdankung zu zwingen. Der perfide und brutale Gaveston (feurig-impulsiv und mit Marlowescher Unverschämtheit dargestellt von Tyrone Singleton) wird wenig später in einem Liebesduett mit Edward gezeigt, das wohl zu den beeindruckendsten Männer-Pas de Deux des Repertoires gehört.
Tiefe Eintracht, Humor, Vulgarität und Brutalität bestehen nebeneinander in diesem keineswegs verklärten Verhältnis, das – zusammen mit Edwards rührender Liebe zu seinem Sohn – zu den einzigen Hoffnungsschimmern des düsteren Stückes zählt. Nach Gavestons brutaler Ermordung durch die Barone fallen Stück und Interpreten in immer tiefere Abgründe der Grausamkeit und der Verzweiflung. Dieses ständige Überschäumen der Gefühle und die Aneinanderreihung schrecklicher Ereignisse könnte zeitweise lächerlich wirken – zum Beispiel beim Auftritt des sichelschwingenden Todes, der ebenso wie die Folterknechte in Edwards Gefängnis und die endlosen Kampfszenen an Yuri Grigorovitschs „Ivan le Terrible“ erinnert – wenn es nicht an anderen Stellen so real wäre. Man ist sogar beinahe froh über die Längen – wie die kitschig-quietschbunte Szene am französischen Hof –, während der man sich vorübergehend vom sich ständig verdichtenden Totentanz erholen kann.
John McCabes schwer tanzbare, unmelodiöse Musik begleitet das Stück wirkungsvoll und trägt ebenso zu der hoffnungslosen Atmosphäre bei wie das metallschwere Bühnenbild von Peter J. Davidson. Nao Sakuma – majestätisch in Jasper Conrans eleganter und vor Farbsymbolik strotzender Garderobe – füllte überzeugend die einzige wichtige weibliche Rolle des Stückes und machte das Beste aus dem etwas abrupten und extremen Charakterwandel, den die Choreographie vorschreibt. Ihr Elan steigert sich vom Pas de Trois im ersten Akt, in dem sie von Edward und Gaveston durch die Luft geschleudert wird, bis zum kriegerischen Solo mit Schwert und Rüstung und dem diabolischen Pas de Deux mit ihrem Geliebten Mortimer (James Grundy).
Robert Tewsley als Edward ist atemberaubend. Sein Tanz ist großzügig und voll nobler Eleganz und Leichtigkeit, wenn er scheinbar mühelos über die Bühne wirbelt und auch bei den zahlreichen gewagten Hebungen nie aus dem Gleichgewicht gerät. Wie so häufig bei ihm sind Tanz und Spiel untrennbar verwoben, da alle seine Bewegungen unmittelbar aus Edwards Persönlichkeit und Stimmung entstehen. Doch hat er seit seinem beeindruckenden Auftritt in „Mayerling“ mit dem Royal Ballet seine schauspielerische Bandbreite noch erweitert, wie seine packende Wandlung vom weichherzigen, schwachen und arroganten König zum bitter leidenden Todgeweihten zeigt.
Vor allem in den Momenten abgrundtiefer Verzweiflung lotet er mit seiner reichen, aber immer völlig natürlichen Mimik neue Möglichkeiten des Schauspiels im Tanz aus: seine Abdankung aus Liebe zu seinem Sohn, der Pas de Deux mit Lightborn und seine spektakuläre Ermordung sind Szenen von erschütternder Intensität, die das Zuschauen zu einem beinahe unerträglichen Akt des Voyeurismus machen. Bei kaum einem Tänzer spiegeln sich Gedanken und Emotionen so expressiv in den Augen wider wie bei Tewsley, und wenn man in diesen beim Anblick seiner Exekutionsmaske die bare Todesangst liest, so fragt man sich, ob er in diesem Moment nicht wirklich an seine unmittelbar bevorstehende Hinrichtung glaubt.
Ein Abend, der tiefe Eindrücke hinterlässt und die Vielseitigkeit des darstellerisch starken Birmingham Royal Ballet beweist.
Rezensierte Vorstellungen: „Strictly Dancing“: 06.10.2007 (19:30), Birmingham Hippodrome „Edward II“: 12.10.2007, Sadler’s Wells Theatre, London
Weitere Vorstellungen bis zum 27.10.2007, Sunderland Empire Theatre und Plymouth Theatre Royal www.brb.org.uk
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