Crankos Erbe
Das Stuttgarter Ballett trauert um Dieter Graefe
Festwochen 50 Jahre Stuttgarter Ballett: Preziosen und Prätentiöses bei den „Schmuck-Stücken“ im Kammertheater
Tief in seine Vergangenheit taucht das Stuttgarter Ballett bei den Festwochen mit dem Abend „Schmuck-Stücke“ im Kammertheater, präsentiert Ausgrabungen und Seltenes aus seiner 50-jährigen Geschichte, umrahmt von Choreografien neueren Datums, die inmitten soviel echter Diamanten ganz leicht wie Talmi erscheinen können. Das erste der Juwelen ist ein unbekannter, noch niemals in Stuttgart gezeigter John Cranko, nämlich der Pas de trois aus „Ami Yam Ami Ya’ar“, hebräisch für „Lied meines Volkes“ und nach John Percivals Cranko-Biografie wörtlich zu übersetzen mit „Lied meines Volks-Waldes, Volks-Meeres“. Das Stück entstand 1971, kurz vor den „Initialen R.B.M.E“ für die Batsheva Dance Company. In Crankos so typischer, dichter und dramatisch-expressiver Bewegungssprache steht hier ein Mann zwischen zwei Frauen, der Geliebten und einer Todesfigur, die sich schließlich um seinen Kopf legt und ihn blind macht. Marijn Rademaker, Myriam Simon und Hyo-Jung Kang erzählten beredt mit ihren Körpern vom Sehnen, Zweifeln, Sterben, Irren. Ein vergessenes Kleinod, das wieder einmal die Frage aufwirft, warum man in Stuttgart immer nur dieselben Cranko-Werke sieht, keine „Spuren“, kein „Konzert für Flöte und Harfe“, so gar keine Rekonstruktionen verlorener Stücke, jetzt wo Georgette Tsinguirides noch da ist und sie betreuen könnte. Glen Tetleys Pas de deux „Ricercare“ aus dem Jahr 1966 beeindruckt zu sparsamer Streichermusik des israelischen Komponisten Mordecai Seter zunächst durch seine Länge – immer wieder brechen Bridget Breiner und Friedemann Vogel zu ausdrucksvollen Solos aus, um sich dann wieder alleine oder zu zweit auf die abstrakte Hängematte im Hintergrund zurückzuziehen. Bei allem Modern Dance, bei aller Expressivität ist da aber viel Winden, Posen und Schlingen drin, das Vokabular wirkt spröde, lange nicht so modern wie Tetleys „Pierrot Lunaire“ oder so frei und klar wie seine späteren Stuttgarter „Voluntaries“. Ein sehr intellektuelles und wenig tänzerisches Stück, das auch die hingebungsvolle Intensität beider Interpreten nicht besser macht.
Im Zentrum des Abends steht die Wiederaufnahme von „Las Hermanas“, Kenneth MacMillans Adaption des düsteren Familiendramas „Bernarda Albas Haus“ von Federico Garcia Lorca, 1963 als erstes Ballett des britischen Choreografen für die Stuttgarter Kompanie entstanden und seit über 30 Jahren nicht mehr im Spielplan. Bei der Uraufführung hatte Marcia Haydée die älteste der fünf Schwestern getanzt, jetzt ist sie die harte Mutter, die ihre gedemütigten Töchter zwingt, nach einem strikten Ehrenkodex zu leben. Bis sich die jüngste den Verlobten der ältesten angelt, von einer anderen Schwester aus Eifersucht verraten wird und sich – das dramatische Schlussbild – erhängt. Selten sah man so viele hasserfüllte Blicke in einem Ballett wie in diesem faszinierenden Kammerspiel, dessen Psychodrama sich mit tödlicher Konsequenz und einem für das Entstehungsjahr 1963 erstaunlich sinnlichen, dramatischen Neoklassik-Vokabular entwickelt. Sue Jin Kang beeindruckt als die verhärmte, zurückzuckende und doch körperlich nach Liebe schreiende älteste Schwester, Laura O’Malley ist die verräterisch heitere jüngste Tochter, Anna Osadcenko eine aus Verzweiflung bösartig Gewordene und Jason Reilly, der umschwärmte einzige Mann, ein bedrohlicher und lasziver Macho. Die nuancenreiche und nie übertriebene Neueinstudierung durch die Uraufführungsbesetzung Haydée und Ray Barra sowie durch Georgette Tsinguirides beweist deutlich, wie wichtig ein solches Weitergeben von Rollen und Inhalten ist – vielleicht holt Reid Anderson nach dem Alumni-Treffen ja nun wieder mehr von den Ehemaligen „nach Hause“, um bei solchen Werken zu helfen. An den prägnanten, klar erzählten und choreografierten „Schwestern“ sieht man übrigens auch, was Bigonzettis ebenso düsteren, südländischen „Brüdern“ fehlt: alles.
Neben den drei Raritäten leuchteten mit dem Pas de trois aus Jiří Kylians „Rückkehr ins fremde Land“ und William Forsythes „Urlicht“ zwei weitere Preziosen aus der Krone des Stuttgarter Balletts. Wie ein Band, eine verbindende Schleife schlingt sich Alicia Amatriain um Evan McKie und Nikolay Godunov; im direkten Vergleich erkennt man verblüfft, woher Kyliáns ineinander verschachtelte, faszinierend symmetrische Menschenskulpturen kommen, die er bis in seine neuesten Ballette beibehielt: ähnlich waren sie an diesem Abend bereits in Crankos Pas de trois zu sehen. Zu einer Klaviersonate von Leoš Janáček rückte Kylián sie 1974 aber ins Abstrakte, ersetzte Crankos ohnehin nur lose angedeutete Handlung durch eine dramatische Gestimmtheit. Forsythes kurzer Pas de deux ist das einzige Werk aus der Anfangszeit des choreografischen Revolutionärs, das man heute noch sehen kann; Laura O’Malley und Filip Barankiewicz sind auf dem besten Weg, seine visionäre Prägnanz der Hoffnung auf ein „ewig selig Leben“ zu finden, das Gustav Mahlers Text verheißt. Merkwürdig nur, dass die Aufnahme, die angeblich von der Gala eine Woche zuvor stammt, nach einem antiken Tondokument klingt. Neben so vielen wertvollen und aufs Wesentliche konzentrierten Choreografien hatten es die Modernen schwer – da wirkt manches gewollt, überflüssig, manieriert. Selbst Marco Goeckes neuartiger Stil verblasste vor so viel dichter Intensität: Zwischen Schmetterlingsflattern und Todessehnsucht tanzte Katja Wünsche sein Solo „Tué“ zu Chansons von Barbara, noch ganz im nervösen Vor-„Orlando“-Stil. In Demis Volpis spitz-stöckelndem Duo „Spinto“ legt Arman Zazyan gerne mal die Hände um den Hals von Angelina Zuccarini statt um ihre Taille, Bridget Breiners setzt in „La Grande Parade du Funk“ ihre lockeren, jazzig-entspannten Tänzer Rachele Buriassi und William Moore sympathisch in Szene. Regelrecht effekthascherisch sieht in diesem Rahmen Itzik Galilis akrobatischer Pas de deux „Mono Lisa“ aus, so spektakulär er auch von Alicia Amatriain und Jason Reilly getanzt wird. Wie rückt doch, bei aller ersehnten und gelobten Modernität, der Blick in die Vergangenheit die Maßstäbe immer wieder zurecht …
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