Pirouette und Purgatorium

Kunstdenker und Mythos-Bearbeiter: Choreograf John Neumeier gastiert ab heute mit „Orpheus“ am Theater an der Wien

Wien, 05/05/2011

Roland Geyer pflegt seit Langem eine künstlerische Liaison mit dem Choreografen aus Norddeutschland: „John Neumeier ist nicht nur ein genialer Erfinder von Tanzprojekten, sondern auch ein Kunstdenker ersten Ranges.“ Das bevorstehende „Orpheus“-Gastspiel des Hamburg Balletts, ursprünglich für die Produktion der Salzburger Festspiele geplant, setzt nicht nur die 2003 begonnene Zusammenarbeit mit dem Theater an der Wien fort. Geht es nach Geyer, dem Intendanten des Hauses, soll die Kunstachse Wien–Hamburg weiter ausgebaut werden.
Wohl aus gutem Grund. Der gebürtige Amerikaner Neumeier zählt zu jener inzwischen raren Spezies von Ballettgrößen, denen es gelingt, jahrzehntelang kontinuierlich an einem Haus ein Repertoire zu pflegen, das in erster Linie noch vom Chef selbst entworfen wird – und damit so erfolgreich ist, dass sich die renommiertesten Ensembles zwischen Paris und St. Petersburg um die Rechte für Einstudierungen der Neumeier’schen Werke bemühen. Unfehlbarer Tanzexperte ist Neumeier trotz Klassikerstatus dennoch nicht geworden.

Der Rezensent der „Welt“ beschrieb dessen „Orpheus“-Uraufführung 2009 etwa als einen „grauen, kaum je zum Fliegen kommenden Premierenabend“, als „langweilige, extrem nach innen gekehrte Neumeier-Novität“. Horst Koegler wiederum, der streitbare Doyen der deutschen Ballettkritik, der jüngst eine neue biografische Studie über Neumeier publizierte, beurteilte „Orpheus“ anfangs ebenfalls skeptisch, resümierte letztlich aber in seinem Blog: „Dies ist eine ganz moderne Interpretation des Orpheus-Mythos – weit ab von allem, was ich bisher etwa von Mary Wigman, von Balanchine bis zu Pina Bausch und Christian Spuck gesehen habe. Hier ist Neumeier etwas geglückt, wovon wir alle 1962 bei der Hamburger Strawinsky-Ehrung mit ‚Apollon’, ‚Orpheus’ und ‚Agon’ geträumt haben, nämlich die Vervollständigung von ‚Apollon’ und ‚Orpheus’ zu einem abendfüllenden Stück über den antiken Mythos.“

Im Vergleich zu Bilderstürmern wie Jiří Kylián und William Forsythe zählt Neumeier, Jahrgang 1942, aus dem nach wie vor maßgeblichen Stuttgarter Ballettumfeld kommend, zu den wertkonservativen Kräften. Seit 1975 befasst er sich etwa intensiv mit dem Werk Gustav Mahlers – und da vorwiegend mit dessen sperrigen Sinfonien. Neumeier choreografierte geistliche Musik und verstörte dogmatische Musikliebhaber und erfreute Ballettkenner damit gleichermaßen, indem er dem damals klassischen Ballett neuartige Dramaturgien und somit andere Lesarten verordnete. Anders als seine Stuttgarter Kollegen ist er einem traditionellen, bildungsbürgerlichen Theaterbegriff treu geblieben, in dem es um klare Vorstellungen von Theatralität und Pathos, von Emotionalität und Direktwirkung auf den Zuschauer geht.

John Neumeier, der in Wien spätestens seit den siebziger Jahren Renommee genießt – unter anderem produzierte er an der Staatsoper umjubelte Neufassungen von Richard Strauss’ „Josephs Legende“ und Strawinskys „Feuervogel“ –, ist als extrem penibler, sorgsamer Kunstarbeiter bekannt, als ein Verfechter hoher Seriosität und Genauigkeit; egal, ob es sich dabei um Vorlagen, Musikwahl oder Tänzerbesetzungen dreht. Der Kenner der Ballets-Russes-Ära steht für eine exakt ausgetüftelte choreografische Sprache, für die eigenwillige Ästhetik einer klassisch grundierten Moderne. In seinem gleichsam klugen Theater ist man gut aufgehoben.

Sein „Nijinsky“-Ballett (2000) begeisterte nicht nur mit dem Reichtum (tanz-) historischer Annäherung, die vor dem Zuschauer ausgebreitet wurde, sondern auch wegen der Radikalität der Bewegung, die Neumeier im zweiten Teil formulierte. Neumeiers Tanz wirkt selten wie eine kritische Reflexion der Gegenwart, eher wie ein quasi-religiös-moralisches Zelebrieren humanistischer Ideale. Insofern darf man auf sein jüngstes Projekt „Purgatorio“ gespannt sein, das im Rahmen der Hamburger Ballett-Tage im Juni mit Simone Young am Pult herauskommen soll. „Das Ballett wird Mahlers zehnte Sinfonie zum Thema haben“, sagt Neumeier. „Außerdem werde ich mich mit Aspekten von Gustav Mahlers Persönlichkeit und der seiner Frau Alma beschäftigen – und mit ihrer Beziehung zueinander. Wie ich es sehe, war diese für beide ein Purgatorium.“

Dass ausgerechnet das klassische Ballett zuletzt durch Darren Aronofskys schwarz-weiß gezeichneten Ballettfilm „Black Swan“ unter Beschuss kam, kommentiert Neumeier so: „Die Ballettwelt wird als eine Welt von Kranken dargestellt, in der monströse Menschen junge Mädchen ausnutzen, die magersüchtig sind. Ballett ist eine Kunstform, in der sehr viele verschiedene Künstler Platz haben – nicht nur Frauen im Alter von 17 bis 24 Jahren, die sich jeden Tag quälen.“

Die Tänzer von Neumeiers Hamburger Company scheinen davon jedenfalls weit entfernt. Obwohl: Eine stärkere Anbindung an die Gegenwart würde, so Neumeier, dem klassischen Ballett als Kunstform durchaus guttun. Kürzlich gründete er mit großzügiger finanzieller Unterstützung von Bund und Stadt Hamburg ein zunächst auf vier Jahre anberaumtes Pilotprojekt. Ab Herbst 2011 wird es in Deutschland erstmals ein Bundesjugendballett geben, das Stücke junger Choreografen in Schulen und Museen, Altersheimen und Gefängnissen tanzen wird.

Das Hamburg Ballett zeigt die 2009 entstandene Produktion „Orpheus“ von John Neumeier (Musik unter anderem aus Strawinskys „Apollon Musagète“ und „Orpheus“; weiters sind Klangarbeiten von Heinrich Ignaz Franz Biber und Peter Blegvad & Andy Partridge zu hören) am 5., 6. und 7. Mai jeweils um 19.30 Uhr im Theater an der Wien. Es spielt das Wiener KammerOrchester unter Leitung von Stefan Vladar. Ebenfalls am 7. Mai moderiert Neumeier bereits um 15.30 Uhr eine Ballett-Werkstatt, in der er Einblicke zur aktuellen Produktion gewährt. In den Vorstellungen tanzen neben Alexandre Riabko (Orpheus) Edvin Revazov/Carsten Jung (Apollo), Hélène Bouchet (Eurydike), Anna Laudere/Lucia Solari (Kalliope), Yohan Stegli/Kiran West. 

Kommentare

Noch keine Beiträge

Ähnliche Artikel

basierend auf den Schlüsselwörtern