Abschluss einer Ära
Mit den Hamburger Ballett-Tagen endet die Intendanz John Neumeiers
John Neumeiers Uraufführung „Purgatorio“ – Lieder von Alma Schindler-Mahler und die 10. Sinfonie von Gustav Mahler
An Gustav Mahler scheiden sich häufig die Geister. Schwülstig, kitschig, zu lang, sagen die einen. Gefühlsstark, voller Tiefe und Farbigkeit, sagen die anderen. Es gibt meistens nur Pro oder Contra, nichts dazwischen. So ähnlich klangen auch die Kommentare, die sich in der Pause und nach der Uraufführung von John Neumeiers jüngstem Werk „Purgatorio“ beim Hamburg Ballett aufschnappen ließen. Wobei die positiven deutlich überwogen. Zu Recht.
Neumeier zeichnet hier erstmals in seinem Zyklus der Mahler-Sinfonien einen wesentlichen Teil aus Mahlers Biografie nach. Die zehnte Sinfonie entstand im Sommer 1910 – just in der Zeit, als er entdeckt hatte, dass seine Frau Alma ihn mit dem jungen Architekten Walter Gropius betrog, den sie während eines Kuraufenthaltes in Tobelbad in der Steiermark kennen und lieben gelernt hatte. Alma war damals schon acht Jahre mit Gustav verheiratet – und den Status als Hausfrau, Mutter und schmückendes Beiwerk an der Seite des berühmten Komponisten und Direktors der Wiener Oper gründlich leid, war sie doch selbst eine hoch begabte Komponistin. Mahler hatte jedoch von ihr verlangt, die eigenen künstlerischen Ambitionen bei der Eheschließung ad acta zu legen. So schrieb er in einem Brief an sie am 19. Dezember 1901: „Wie stellst Du Dir so ein komponierendes Ehepaar vor? Hast Du eine Ahnung, wie lächerlich und später herabziehend vor uns selbst so ein eigentümliches Rivalitätsverhältnis werden muss? (...) Aber dass Du so werden musst, wie ich es brauche, wenn wir glücklich werden sollen – mein Eheweib, und nicht mein College – das ist sicher. (...) Du hast von nun an nur einen Beruf: mich glücklich zu machen. (...) Und da fällt die Rolle des ‚Componisten’, des ‚Arbeitens’ mir zu und Dir die des liebenden Gefährten, des verstehenden Kameraden! (...) Du musst Dich mir bedingungslos zueigen geben – die Gestaltung Deines zukünftigen Lebens in allen Einzelheiten innerlich von meinen Bedürfnissen abhängig machen und nichts dafür wünschen als meine Liebe.“ Alma notiert daraufhin in ihrem Tagebuch: „Ich habe das Gefühl, als hätte man mir mit kalter Faust das Herz aus der Brust genommen.“
Man muss sich diese Situation vor Augen halten, wenn man verstehen will, was da gründlich schief gegangen ist in dieser Ehe. Und so wird eines ihrer Lieder, das sie schon als 17-Jährige geschrieben hat, zum Signum von Almas Qual: „Kennst Du meine Nächte?“ Nein, Mahler kannte ihre Nächte nicht. Er hatte in seiner eigenen Welt gelebt, die vor allem aus der Musik bestand, seiner Musik. Er war, wie der Titel eines seiner schönsten Lieder besagt, „der Welt abhanden gekommen“. Erst, als er von ihrer Untreue erfährt, wird er sich seiner Liebe zu Alma bewusst. Erst da setzt er sich mit ihrem kompositorischen Werk auseinander und sorgt dafür, dass ein Teil ihrer Lieder erstmals veröffentlicht wird. Und erst da stellt er sich auch den eigenen Abgründen – und führt ein vierstündiges Gespräch mit Sigmund Freud, für das er eigens die beschwerliche Reise nach Leiden in Kauf nimmt.
Neumeier geht es in „Purgatorio“ ausschließlich um diese krisenhafte Zeit im Sommer 1910 – Almas späteres Leben, nach Mahlers Tod im Mai 1911, klammert er bewusst aus, es interessiert ihn einfach nicht, was dem Stück nur gut tut, denn es spielt für das, was damals war, keine Rolle. Alma war noch nicht die männermordende Femme Fatale, als die sie in die Geschichte einging. Sie war einfach nur eine Frau, die sich selbst unterdrücken musste, um eine von ihr durchaus gewollte Ehe zu führen, mit einem Mann, den sie liebte, der sie als Persönlichkeit jedoch ignorierte, und dem sie sich deshalb mehr und mehr entfremdete. Mahlers zehnte Sinfonie, die er nicht mehr vollenden konnte (Neumeier verwendet eine Fassung des britischen Musikwissenschaftlers Deryck Cooke), ist, wie Neumeier selbst sagt, „ein Musikdrama in sich“, das auch für einen sehr menschlichen Konflikt stehe, in dem sich jeder Künstler befindet. Dem Konflikt, wie nah er die äußere Welt an sich heranlässt, und wie er es schafft, sowohl seiner Kunst gerecht zu werden, als auch dem Menschen, mit dem er zusammenlebt und den er liebt.
Obwohl Mahler selbst nur den dritten Satz der 10. Sinfonie mit „Purgatorio“ (Fegefeuer) überschrieben hat, fasst John Neumeier den ganzen zweiteiligen Abend unter diesen Oberbegriff. „Ich denke, das passt“, sagt er selbst. „Von dem Moment an, als die Krise begonnen hat, war der 3. Satz wahrscheinlich der erste, den er geschrieben hat, und es ist mit vier Minuten auch der kürzeste Satz, den er je komponiert hat. Und dieser Satz beinhaltet ein Thema aus einem von Almas Liedern, sie tauchen auch noch einmal im 4. und 5. Satz auf, sind dann aber in den letzten 20 Minuten komplett verschwunden, insofern denke ich schon, dass es ein passender Titel ist.“ Denn kein Fegefeuer dauert ewiglich – und auch der Konflikt zwischen Alma und Gustav kommt zu einem guten Ende. „Ich glaube, dass sich Gustav und Alma in den letzten zehn Monaten ihrer Ehe so nah waren wie nie zuvor“, sagt John Neumeier, „und dass sie sich erstmals auch wirklich gesehen haben – ebenbürtig, auf Augenhöhe.“ Neumeier entwickelt das Ehedrama auf zwei Ebenen: einmal siedelt er es – zu neun Lieder von Alma Schindler-Mahler – in Tobelbad an, wo Alma kurte und Gropius traf, und einmal – zu Mahlers Zehnter – in Toblach in Tirol, wo Mahler gerne in einem spartanischen Komponierhäuschen an seiner Musik arbeitete. Neumeier findet im ersten Teil zu einer ganz eigenen Gestik, die einen fast frieren lässt, so quälend ist der Abstand zwischen den beiden Eheleuten, so fassadenhaft ihr Zusammensein, so tief die Sehnsucht Almas nach Anerkennung und Respekt und Gesehenwerden. Er zeigt, wie fremd sich die beiden sind, wie sie nebeneinander her leben, Gustav verwoben in seine eigene Welt, seine Musik, die Hände immer an der Partitur, aber nicht an seiner Frau. Er zeigt, wie Alma dann aufblüht in der Begegnung mit Gropius, wie sie hin- und hergerissen ist zwischen den beiden Männern. Wie immer ist Neumeiers Choreografie gespickt mit unzähligen Anspielungen, Assoziationen, Zitaten, Raffinessen und Details, die sich an einem Abend gar nicht im Einzelnen alle erfassen lassen. Seine Bewegungssprache ist reif und spannungsgeladen, und gerade im ersten Teil gelingt ihm eine atemberaubende Klimax: zum letzten Lied („Lobgesang“) tritt Alma nicht mehr gesittet im roten Kostüm auf, sondern stürzt sich im hauchzarten weißen Negligé mit offenen Haaren vom Podest aus in Gropius’ Arme, um sich ihm ganz und gar hinzugeben.
Danach, in Toblach dann, geht es vor allem um Mahlers Konflikt mit sich selbst. Auch hier könnte die oft episch ausladende Musik dazu verleiten, das ganze zu überfrachten, vor allem im Adagio mit seinen langgezogenen Streicherpassagen, mit der die Sinfonie beginnt. Dieses Adagio hatte Neumeier schon vor etwa 30 Jahren einmal choreografiert – „Lieb und Leid und Welt und Traum“ nannte er das Stück damals. Die wunderbare Joëlle Boulogne tritt hier noch einmal auf (einfühlsam gepartnert von Carsten Jung) – es ist das Stück, dessen Expressivität sie vor 20 Jahren bei den Ballets de Monte Carlo (wo Neumeier es einstudierte) so tief beeindruckt hat, dass sie nach Hamburg kam. Nun, am Ende ihrer Bühnenkarriere, schließt sich der Kreis, und sie tanzt es mit der ihr eigenen beseelten Konzentration und Ernsthaftigkeit.
Das Scherzo gestaltet Neumeier mit tastenden Versuchen, neue Wege zu gehen. Als Leitbild fungieren dabei Edvin Revazov und Anna Laudere als Paar – mit sehr schlichten und klaren Bewegungen. Als Sinnbild für das noch Unfertige tanzen sie ebenso wie das Corps in Trainingskleidern. Im dritten Satz, dem eigentlichen „Purgatorio“, den Neumeier in orangerotes Licht taucht, kämpft Mahler mit den Geistern seiner musikalischen Inspiration, die Neumeier durch vier Tänzer verkörpern lässt (wunderbar synchron: Aleix Martinez, Alexandr Trusch, Konstantin Tselikov, Kiran West). Bis dann im vierten Satz (Scherzo – „Der Teufel tanzt es mit mir“) der Konflikt mit Alma noch einmal in voller Tragweite durchbricht. Hier baut Neumeier noch die Assoziation Mahlers zu seiner Mutter ein (wunderbar gesammelt in sich: Anna Polikarpova), deren Leid er als Kind miterlebt hat, als sie von seinem Vater misshandelt wurde, was sein Verhältnis zu Frauen – auch zu Alma – nachhaltig beeinflusst hat.
Und in der letzten Viertelstunde folgt dann endlich die Erlösung aus dem Fegefeuer, wenn die Eheleute wieder zueinander finden. Neumeier entgeht hier gekonnt der Versuchung, sich zu sehr in diese romantische Musik hineinzustürzen, indem er Alma (jetzt im weißen Kostüm) einfach eine Tasse Tee bringen lässt – und es ist diese selbstverständliche, einfache Geste, mit der sie Mahler von seiner Qual erlöst. Ebenso sparsam zeichnet Neumeier den gesamten Schluss, die letzten Monate dieser Ehe, wo Alma und Gustav endlich einander wirklich sehen. Hier entwickelt er wunderbar langsame, ruhige, suchende, miteinander verschmelzende Gesten, die gerade durch ihre Zurücknahme so anrührend sind. Dennoch könnte das ganze durchaus ins Kitschige abstürzen – wären da nicht die absolut großartigen, ausdrucksstarken Charakterdarsteller des Hamburg Ballett: Lloyd Riggins verleiht Gustav Mahler genau das richtige Maß an Verzweiflung und Selbstversponnenheit, Hélène Bouchet ist eine grandiose, höchst expressive Alma, Thiago Bordin ein verführerischer und doch scheuer Walter Gropius, Alexandre Riabko steht für Mahlers „Creator Spiritus“, seinen Geist der Kreativität, mit einer tief in sich ruhenden Sicherheit und Souveränität – das alles ist ganz, ganz große Tanzkunst.
Bühnenbild und Kostüme hält Neumeier angenehm schlicht, sein raffiniertes Lichtkonzept weiß er effektvoll zu platzieren. Die Prospekte wechseln vom weichen Alpenpanorama mit See (Toblach) zu grob verwischtem Hintergrund, mal blau-grün, mal grau-blau. Das Komponierhäuschen symbolisiert ein rotes Lattengerüst, das Mahler Schutz bietet, in das er sich immer wieder flüchtet, das jedoch auch zum Käfig wird. Almas Lieder wurden traumschön und anrührend schlicht gesungen von der niederländischen Sopranistin Charlotte Margiono, die ihre aktive Bühnenkarriere eigentlich schon beendet hatte, für diese Aufführungen aber dankenswerterweise noch einmal zurückgekehrt ist. Simone Young persönlich dirigierte die beseelt aufspielenden Hamburger Philharmoniker, und wer genau hingehört hat, wird den einmalig schönen Strich des in Hamburg schmerzlich vermissten früheren Konzertmeisters Anton Barakhovsky vernommen haben, der für diese Premiere eigens aus München angereist ist. Großer Applaus für das gesamte Ensemble, das auch ein einsames Buh nicht trüben konnte.
Noch keine Beiträge
basierend auf den Schlüsselwörtern
Please login to post comments