Seelenkompass, Suchbewegung und Slapstick-Komik

Stephan Thoss und das Wiesbadener Ballett gastieren mit »Labyrinth« in Heilbronn

Heilbronn, 19/06/2011

Navigieren wir uns zu Tode in einer Welt voll (überflüssiger) Optionen? Stephan Thoss kommentiert den akuten Orientierungsnotstand mit seinem Dreiteiler „Labyrinth“, aus dem Hessischen Staatstheater Wiesbaden zu Gast im Theater Heilbronn. Das Publikum war von den Suchbewegungen in den Stücken „Irr-Garten“ (2009), „Sweet Shadow“ (2009) und „Carmencita“ (1999) begeistert: Szenenapplaus und anhaltender Beifall im Stehen bei der Premiere des Gastspiels.

Aus der Zeit gefallen scheinen drei Ballerinen (die später Jugendstil-gewandet wiederkehren), eine Degenkämpferin und jene Dame in Schwarz mit modischer Hut-Kreation à la Ascot sowie raumgreifender Schleppe, denen die die Herren auf der Spuren-, Sinn- und Partnersuche begegnen. Das Objekt ihrer Begierde ist eine Frau im roten Kleid. Drei Salatfrauen in grünem Kostüm irrlichtern durch die surreale Traumwelt, irritieren im Bild erotischer Verlockung, indem sie echte Salatblätter auf einen Haufen streuen. Davon angesteckt folgen, bar rationaler Raster, andere Figuren dem bizarren Beispiel (das angesichts der EHEC-Krise samt weggeworfener Gurken-, Tomaten- und Salatberge unfreiwillig eine fast visionäre Qualität bekommt).

Während der Sound von Ernst A. Klötzke und Gavin Bryars mit Streicherostinato und pochender Elektronik die Luft mit Adrenalin schwängert, heben und senken sich Wandstücke, öffnen und verschließen Perspektiven. Herren baden förmlich im Salat. Eine Redewendung, die, so Thoss, der auch für Bühne und Kostüme zeichnet, im Luxus schwimmen bedeute. Das Motiv des „im Salat baden“ nimmt eine Video-Projektion auf: Tänzer fallen in ein Meer aus Salatblättern und, rückwärts gedreht, fliegen sie – quasi vom Luxus abgestoßen – wieder zurück, um am Ende, jeder für sich, aus dem „Irr-Garten“ zu tänzeln.

Eine Disco-Parodie ist gleichsam der inhaltliche Übergang zu „Sweet Shadow“. Mit süßen, selbstverliebten Schatten richtet Thoss den Seelenkompass auf das Ich und die Ambivalenz des Single-Daseins. Der Egomane will als Individualist unabhängig sein, aber ohne zu vereinsamen. Zu den Stücken „Exploritis“, „Exploris“, „So what“ und „Christus Vincit“ des Jazzpianisten Leszek Mozdzer gruppieren sich acht Tänzer, alle uniform (weiße Hose, weißes Hemd) um ein leeres rotes Kleid.

Wie beim Tanz ums Goldene Kalb kreist die Choreografie aus Platzwechseln, meist ausgehend von Dreierreihen, um die symbolträchtige Hohlform, eine Projektionsfläche für Sehnsucht und Leidenschaft. Vereinzelte solistischen Vorstöße und motorische Ausbrüche lässt die selbstverschuldete Bewegungsmonotonie regelmäßig im Ballett-Idiom münden, hier ein schlichtes Port de bras, da ein Plié, dort ein Passé. Den Künstler herausfordern, die Grenzen ausloten, über den eigenen Ballettschatten springen - Thoss verlangt schier Unmögliches, denn die raffinierte Licht-Inszenierung schafft eine irreale Welt ohne Schatten. Lange Schatten werfen hingegen (im übertragenen Sinn) bekannte Opernarien von Verdi, Bizet und Puccini, die Thoss in „Carmencita“ zu einer Slapstick-Humoreske mit theaterkritischem Subtext inspiriert haben. Wie aus der Mottenkiste schlurft ein Greis am Stock mit Kronleuchter-Kopfbedeckung über die Szene. Der Ariadnefaden des Programms, die Farbe Rot, trägt der Alte einen rotem Umhang, während sich auf einem schiefen Plüschsofa, verstaubt und angeschimmelt, auferstandene Diven tummeln und um die Gunst des Publikums buhlen.

Wer „Skew-Whiff“ („windschief“; 1996) des Choreografenduos Paul Lightfoot / Sol León zu Rossinis Ouvertüre der „Diebischen Elster" nicht gesehen hat, wer Mats Eks drogenabhängiges „Dornröschen" (1996) und andere Updates seiner Ballettklassiker nicht kennt und wer nie den Ursprung dieses ballettkompatiblen Vokabulars aus Slapstick-Komik, karikierender Schärfe, ironischem Biss und Endzeitzucken der unsterblichen Butoh-Choreografin Anzu Furukawa (1952-2001) erlebt hat, mag das vielleicht für innovative Choreografie halten. Klar darf man im Tanz zitieren, sich Bewegungsmaterial leihen, anverwandeln, inspirieren lassen (oder wie immer man es nennen möchte), auch wenn’s dafür keine Gänsefüßchen gibt.

Ärgerlich an dieser Mentalität aber ist vor allem eins: der mangelnde Respekt vor der eigenen Zunft. Schaut man in Programmhefte, da überschlagen sich Tanzdramaturgen mit Verweisen, Zitaten, Widmungen aus allen möglichen Bereichen: Musik und Literatur, selbst Bildende Kunst ist urheberrechtlich korrekt mit Quellennachweis vorzufinden. Unter „Irr-Garten“ steht: gewidmet dem Pianisten Max Vax; unter „Carmencita“ hätte stehen können: gewidmet der Butoh-Tänzerin und Choreografin Anzu Furukawa – eine großartige, leider unterschätzte Innovatorin des Metiers.

noch einmal in Heilbronn am 28. + 29.6.
www.theater-heilbronn.de
www.stephan-thoss.de

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