Crankos Erbe
Das Stuttgarter Ballett trauert um Dieter Graefe
Fünfeinhalb Stunden wurde bei der Gala zum 50-jährigen Jubiläum des Stuttgarter Balletts gefeiert
Bevor ein Schritt getanzt wurde, wurde erst mal gesungen: „This is the moment“ hieß der trefflich gewählte Song aus dem Musical „Jekyll & Hyde“, mit dem der ehemalige Erste Solist Randy Diamond die auserlesenen Gäste auf die große Geburtstagsgala zum 50-jährigen Jubiläum des Stuttgarter Balletts einstimmte. Er bekam den ersten Jubelschrei des Abends. Danach wurde im Opernhaus noch immer nicht getanzt, sondern geredet: der baden-württembergische Ministerpräsident Stefan Mappus lachte über die Buhrufe zu seiner Begrüßung (ob nun wegen S21 oder dem verzögerten Neubau der Cranko-Schule) und bewies in seiner Gratulationsrede, vorsichtig um das Thema Ballett herumtastend, dass die schönen Künste nicht eben zu seinen Kernkompetenzen gehören. Was hatte Lothar Späth doch für originelle Reden bei solchen Anlässen gehalten. Die Cranko-Schule selbst tat dann das Beste, um ihre Qualität zu bekräftigen, sämtliche Schüler wirbelten und flogen in einem Auszug aus den „Etüden“ in rasanten, perfekten Reihen über die Bühne. Das prachtvolle Herumstolzieren zum großen Defilée allerdings ist nicht so ganz die Sache der Stuttgarter Kompanie, wenn auch das Schlussbild gemeinsam mit der Schule beeindruckend aussah. Die baden-württembergische Prominenz aus Politik, Wirtschaft und Kultur, all die Namen von Schuster über Föll, Gönnenwein, Piech, Schmid, Späth, Stihl, Staudt, Tränkle, von Trotha, Zetsche, Zehelein verblassten gegen die versammelte Ballettprominenz aus aller Welt: mit Hans van Manen, John Neumeier und Jiří Kylián waren drei der größten lebenden Choreografen im Opernhaus, dazu Ballettdirektoren von New York über London bis Sydney und viele von Reid Andersons Kollegen aus Deutschland. Und natürlich die „Alumni“, wie es so schön in der Ballettsprache Englisch heißt, an die zweihundert ehemalige Tänzer des Stuttgarter Balletts, die sich in den Foyers in die Arme fielen oder um Autogramme gebeten wurden und ganz am Schluss auf die Bühne strömten, um sich noch einmal vor dem jubelndem Publikum zu verbeugen, das sie dort schon vor fünfzig, zwanzig oder zehn Jahren gefeiert hatte. Crankos vier „Initialen“ Cragun, Keil, Haydée und Madsen thronten in der Mittelloge, mittels einer ausgeklügelten Gala-Choreografie wurden all die Großen der Ballettzunft an diesem Abend gebührend geehrt und bejubelt.
Schade nur, dass die eigentliche Ballettgala etwas vor sich hin schwächelte. Falls es ein solches überhaupt gab, dann könnte man sagen: es war ein interessantes Konzept, denn der Abend kam ganz ohne die üblichen Sahnestückchen aus dem virtuosen Klassikerrepertoire aus – kein „Don Quixote“, kein „Schwanensee“. Kein Beitrag war älter als 50 Jahre, die Hälfte der Werke erst in den letzten paar Jahren entstanden. Natürlich ging es um die Geschichte des Stuttgarter Balletts, vielleicht lag das Gefühl einer gewissen Überlänge ja an der einseitigen Zusammenstellung, die ins erste Drittel des Abends die langsamen, abstrakten Pas de deux mit engelsgleich schwebenden Frauenfiguren gepackt hatte wie den „Jeunehomme“-Pas-de-deux von Uwe Scholz mit dem Karlsruher Paar Blythe Newman und Admill Kuyler. Oder den Ausschnitt aus „Molto vivace“ von Stephen Baynes, auch er ein ehemaliges Mitglied der Stuttgarter Kompanie und heute Resident Choreographer beim Australian Ballet, dessen Solisten Amber Scott und Adam Bull das elegische Duo zum berühmten Largo aus „Xerxes“ tanzten.
Im zweiten Drittel kamen dann die zackig attackierenden Duos zu elektronischer Musik: Douglas Lees „Fanfare LX“, mit der sich Anna Osadcenko und Evan McKie für ein dringend in Stuttgart zu erwerbendes Forsythe-Repertoire qualifizierten, oder „In Peril“, eine Uraufführung der kanadischen Choreografin Sabrina Matthews, die im Gegensatz zu Lees völlig abstrakter Bewegungsstudie das beinewerfende Überdehnen zur Schilderung eines tiefen, fast gewalttätigen Konfliktes verwendete. Guillaume Côté und Heather konnten ihre beeindruckende Technik zeigen, stellten sie aber ganz in den Dienst einer intensiven Darstellung. Für das Stuttgarter Publikum war vieles dabei, was es aus dem Repertoire oder von Reid Andersons Geburtstagsgala vor zwei Jahren kannte, das Duo aus Mauro Bigonzettis „Kazimir’s Colours“ zum Beispiel, das Katja Wünsche und Alexander Zaitsev zu einem gespannten Psychoduell machten, so sinnlich wie selten zuvor. Die versammelten Ballettdirektoren werden vermutlich zuhause erzählen, dass in Stuttgart ziemlich schräge Sachen getanzt werden, Christian Spucks groteskes und etwas ordinär geratenes „Ständchen“ zum Beispiel, Bridget Breiners Solo „Au’leen“ zu einer Radioansprache im mennonitischen Dialekt samt Liedbeitrag des Bassisten Phillip Ens, oder auch „My Way“ von Stephan Thoss, der deutschen Ausdruckstanz zu Frank Sinatras Las-Vegas-Weltläufigkeit kombiniert – Marijn Rademaker und Alexander Jones trafen sehr schön den intellektuell-distanzierten und doch entspannt zurückblickenden Stil. Die Gäste aus aller Welt brachten landestypische Spezialitäten als Geschenk, das Londoner Royal Ballet etwa einen exotisch angehauchten Pas de deux des noblen Frederick Ashton zur Meditation aus Jules Massenets Oper „Thaïs“, getanzt von der exquisiten Sarah Lamb und Federico Bonelli. Die zarte, feingliedrige Wang Qimin und Li Jun vom Chinesischen Nationalballett zeigten in einem Ausschnitt aus dem „Päonien-Pavillon“, wie man in China traditionelle Folklore mit westlicher Ballettklassik zu vereinen sucht. In weich fließenden Seidenmänteln sah das für unsere Forsythe-gewöhnten Augen zunächst nach ein wenig viel Posieren aus, entwickelte aber in seiner meditativen Stille und Stilisierung einen ganz eigenen Zauber. Zu lang und choreografisch sehr beliebig war der Ausschnitt aus Marcia Haydées „Carmen“, trotz der starken, herben Charaktere seiner beiden Interpreten Luis Ortigoza und Natalia Berrios vom Ballet de Santiago de Chile. Aus dem Theaterhaus waren Eric Gauthier und Egon Madsen mit ihrem Duo „Dear John“, der Hommage an John Cranko, gewissermaßen nach Hause zurückgekehrt.
Einmal mehr aber waren die choreografischen Höhepunkte die guten alten Klassiker der Moderne, die großen Namen: William Forsythes allererstes Werk „Urlicht“, getanzt von Laura O’Malley und Filip Barankiewicz und wunderbar innig gesungen von Christiane Iven, oder der Ausschnitt aus Jiří Kyliáns „Rückkehr ins fremde Land“ mit Alicia Amatriain, Nikolay Godunov und Evan McKie. Wunderbar auch die zerbrechliche Elizabeth Mason mit ihrem zarten Port de bras, die im Zeitlupen-Pas-de-deux aus John Neumeiers „Othello“ neben Jason Reilly so stark an die Uraufführungsbesetzung Gigi Hyatt erinnerte. Nicht ganz so ideal sah Alicia Amatriain in der deutschen Erstaufführung von „Two Pieces for Het“ aus, weil ihr die kühle Eleganz zu Hans van Manens modernen Frauengestalten fehlt; auch Marijn Rademaker hätte für die erotische Spannung des Duos ein Hauch Machismo gut getan. Wie großartig man Cranko in Stuttgart immer noch tanzt, zeigten Sue Jin Kang und Jason Reilly mit dem Schluss-Pas-de-deux aus „Onegin“ ihren Rollenvorgängern, von denen so viele im Publikum saßen. Auch die zwei Stars aus Reid Andersons Anfangszeit waren gekommen: der Berliner Ballettchef Vladimir Malakhov, mit seinem etwas abstrakteren „Sterbenden Schwan“ von Mauro de Candia noch immer ein lyrischer Solitär unter den Ballerinos, sowie Robert Tewsley, der in Kenneth MacMillans „Mayerling“ neben Irina Tsymbal vom Wiener Staatsballett den todessüchtigen Kronprinz Rudolf am Rande des Wahnsinns verzweifeln ließ. Er zierte damals beim 40-jährigen Jubiläum der Kompanie die Poster, heute ist es Friedemann Vogel, der an diesem Abend in „Fancy Goods“ wieder als atemberaubender Interpret des Stuttgarter Hauschoreografen Marco Goecke brillierte: ein Virtuose in der Sylvie-Guillem-Liga, der auf dem Instrument seines Körpers nach Belieben alles von klassisch bis modern spielen kann, ohne sich noch irgendwie um Technik oder handwerkliches Können kümmern zu müssen. Am Vortag hatte er vom selben erlesenen Fachpublikum eine Standing Ovation für seinen „Bolero“ erhalten, die inoffizielle Ernennung zum Ballettweltstar. Vielleicht ist es der junge Daniel Camargo, der die Poster in zehn Jahren zum 60. Geburtstag zieren wird, wer weiß - sicher ist nur, auch dann wird das Stuttgarter Ballett mit Sekt, Luftballons und Konfetti bis lange nach Mitternacht feiern.
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