Wie aus Einsamkeit Gewalt wird

„Und der Haifisch, der hat Tränen“ – er tanzt am Staatstheater Cottbus

Cottbus, 23/03/2011

Kein einfaches Thema, das sich Sven Grützmacher und die kleine Kompanie am Staatstheater Cottbus vorgenommen haben: mit nur acht Tänzern eine ganze Lebenstragödie zu beleuchten. Im Tanz bloßzulegen, weshalb ein junges Leben scheitern muss. Anlass zu dieser bitteren Story bot die Realität: der tödliche Amoklauf eines Schülers 2009 in Winnenden. Was dafür, neben der eigenen Verfasstheit, Gründe gewesen sein mögen, fächert Grützmacher, seit 2005 Direktor am Tanz Theater Trier und dort aufgefallen durch ambitioniert zeitverwurzelte Inszenierungen, in starken Bildern für die Cottbuser Kammerbühne auf. Und findet bei den rauen Tönen der Band Rammstein auch die poetische Zeile, die den Titel gibt. „Und der Haifisch, der hat Tränen“ spielt zwar mit Brecht, kehrt dessen Aussage vom reißenden Monster aber um: Der Hai, heißt es bei Rammstein, weint seine Tränen ins Meer, man merkt sie nur am salzigen Wasser. Ein weinender Hai mag auch Victor sein, der vom Namen her zum Siegen geboren ist. Die äußeren Umstände tragen ihn auf die Seite der Verlierer. Dort lässt Grützmacher sein Stück beginnen.

In einem aquariumblauen Raum mit leicht schrägen Wänden lungern fast Nackte lethargisch herum. Das Gestühl dieser Anstalt hängt unerreichbar in der Höhe; nur einer hat darauf Platz gefunden, Victor. Drei Türen führen aus der sterilen Atmosphäre in ein entzündlich rotes Außen. Geduckt laufen die Eingesperrten, von einer Schwester in ordnende Raster gebracht; Schuhe sind der einzige Gegenstand, mit dem sie umgehen dürfen. Zeit genug für den Sonderling, sich an wichtige Stationen seines Weges zu erinnern. Glockengeläut hallt durchs elterliche Haus, Cello im Kontrast zu Rammstein suggeriert inneren Frieden. Den findet der Junge nur bei der liebenden Mutter; der kaltherzige Vater drangsaliert die beiden und trägt heimlich seine Geliebte als lebendes Spielzeug herum. Mit Freunden in rockigem Leder feiert Victor Party, lernt dort seine erste Liebe kennen, tanzt mit dem Mädchen in Rot wie im Taumel bis zur Hingabe. Doch die Welt voller Aggression, Neid, Eigensucht verlangt nach anderem. Die Stühle an der Wand dienen zum Pfählen unliebsamer Konkurrenten, werden Objekt für Besitzstandwahrung, für einen Platz in der Ständehierarchie. Den möchte auch das Mädchen und entzieht sich der als unbehaglich empfundenen Zuneigung. Für Victor eine weitere herbe Enttäuschung: Er schlägt verzweifelt die Wand, die Schläge des Mädchens zielen auf den eigenen Körper. „Ich tanze mit dir in den Himmel hinein“, zitiert Max Raabe den UFA-Schlager. Dass die heile Welt, in die sich Victor wünscht, Risse und Brüche hat, die Tanzenden letztlich nur Marionetten sind, feuert, wie im projizierten Video, seine Pulsfrequenz an, ebenso seinen Selbsthass, nicht Eingang ins „normale“ Leben zu finden.

„Bang-bang“ und „Feuer frei“ tönt es wiederum als Ausdruck für Victors inneren Aufruhr, der seine Wahrnehmung verwirrt: „Ich baue dir ein Haus, jeder Stein ist eine Träne, niemand hört dich dort schreien, nur ich werde bei dir sein, maure dich ein“, heißt es im Song zur Gefühlslage. Gewaltfantasie wird zur Tat, als in einem Tanz dreier Paare die Frauen misshandelt werden; Victors Partnerin überlebt nicht, er sitzt in der Falle, steht im Handstand an der Wand. Die Eltern wissen keinen Trost, die Rote ist nur mahnende Erinnerung an eine verblichene Chance, Ohren und Mund halten sich die Freunde in ohnmächtiger Verweigerung zu. Unter einer Dusche sucht Victor nach dem tilgenden Reinigungsritual, endet verknotet und zusammengekauert. Countrystar Johnny Cash klagt dazu, was aus ihm geworden sei und dass er, könnte er nochmals beginnen, gewiss seinen Weg finden würde. Treffend ist die Musik von John Zorn und Depeche Mode bis zum Kronos Quartet, die Grützmacher seiner Bilderfolge unterlegt, auch um ein junges Publikum zu aktivieren. Dem und allen anderen bietet er 70 Minuten lang einen dichten Flor bis ins Akrobatische virtuoser Bewegung, die in ihrer Plastizität, Präzision, Gestik stets der Aussage dient. Kaum je reißt die Spannung ab, die durch dynamische Wechsel zwischen rasantem Tempo und Zeitlupe zusätzlich gewinnt. Dem Cottbuser Ensemble bedeutet das enorme Herausforderung, der Gasttänzer aufhelfen. Dass die Kompanie in dem jungen Christian Schreier einen bravourös auftrumpfenden Victor stellen kann, spricht für das wachsende Format des einzigen dem Land Brandenburg verbliebenen Balletts.

Wieder 3.4., 23.4., 26.5. 

www.staatstheater-cottbus.de

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