Stilreiche Ballett-Premiere

Das Bayerische Staatsballett zeigt sich von einer neuen Seite

München, 31/01/2012

Eine Staatsballett-Premiere mit vier Stücken von drei stilistisch unterschiedlichen Choreografen – konnte das gut gehen? Es ging sogar bestens. Nicht nur – ein paar Längen mal beiseite –, weil jede der Arbeiten, bis hin zur Musikwahl, eine Qualität hatte. In ihrer Zusammenschau machten sie deutlich, wie sehr sich an unseren Theatern die Sparte Ballett – und damit auch der Typus des Tänzers – in den letzten vierzig Jahren verändert hat. Was und wie an diesem Abend getanzt wurde, rückt näher an die heutige Jugend heran. Und die applaudierte begeistert im Münchner Prinzregententheater, das, ganz im Sinne seines Erretters August Everding, an diesem Abend zur jungen Tanzbühne wurde.

Den Auftakt machte Kenneth MacMillans „Las Hermanas“ von 1963. MacMillan erzählt hier zu Frank Martins nerv-anspannendem Cembalo-Konzert das Lorca-Drama der unerbittlichen Bernarda Alba, die ihre Töchter vor den Männern wegsperrt. Auf der Suche nach der richtigen Geste für diese bigott geknebelte geschlossene Frauengesellschaft öffnete MacMillan seine Neoklassik für freie, dem Tanz Expressionismus entlehnte Bewegungen. Und das wunderbar stimmig. Erotische und sexuelle Frustration, Eifersucht, Verrat, Verletztheit, Resignation tanzen sich hier aus in schneidend hochgeschleuderten Beinen; in ausschlagenden Armen, die sich verquer zurückzwingen zum Körper – der, trotz allem Gefühlsaufruhr, durch die anerzogene Kontrolle in Verspanntheit agiert. Großartig in ihrer zarten Verwelktheit Lucia Lacarra zwischen Scham und Begierde nach dem ihr zugedachten Mann (Cyril Pierre), der es jedoch mit der jüngsten Schwester treibt.
Während MacMillans dramatisch gebrochene Neoklassik schon damals Tradition an großen Häusern wurde, sind zeitgenössische Choreografien wie die von Russell Maliphant erst in den letzten Jahren Staatstheater-fähig. Dem Ex-Tänzer des Sadler's Wells Royal Ballet reichen die Skulpturalität des Körpers und ein ausgesuchtes Licht-Design.

In „Afterlight“ von 2003 bewegt sich der außergewöhnliche Gast-Tänzer Daniel Proietto auf einem eng begrenzten, sich später weitenden und wieder verkleinernden Teppich aus Lichtflecken, eingehüllt in einen zarten Lichtkegel: weich, biegsam, kraftvoll oder lyrisch, von der tierhaft schönen Bewegung am Boden bis zu irrlichternd schnellen Drehungen. Ein Priester des Tanzes, sekundenweise fast ein Nijinsky – aufgehend in seinem Licht-Universum. Zu Erik Saties „Gnossiennes“ ist das der magischste Moment des Abends. Eher kühl-spröde, dennoch exzellent gemacht, Maliphants Trio „Broken Fall“ (auf Wunsch von Weltstar Sylvie Guillem für sie 2009 entworfen), in dessen ständigem Fluss neoklassische Arabesque und Attitüde Instrumente der Equilibristik werden; und traditionelle Ballett-Hebungen sich zu zirzensischen Balance-Nummern steigern.

Mit Simone Sandronis Kreation „Das Mädchen und der Messerwerfer“ nach dem gleichnamigen Gedichtzyklus von Wolf Wondratschek von 1997 hält schließlich der Streetdance Einzug ins Staatstheater. Bei Wondratschek verlässt der Messerwerfer einen kleinen Wanderzirkus und seine beiden Frauen und zieht mit dem „Mädchen“, das vielleicht seine Tochter ist, allein durch die Lande. Der Italiener Sandroni, der nach „Cambio d'Abito“ (2008) hier seine zweite größere Staatsballett-Arbeit vorlegt, hat den Zirkus auf einen Spielplatz verlegt, mit Rutschbahnen, Schaukeln und Sandkasten. Und wenn das Wondratschek-Personal hier statt Zirkus-Nummern ausgefallene Tanzfolgen probt, hat das in seiner Virtuosität den gleichen Kitzel wie Messerwerfen und Jonglage. Zu pointiert rhythmischen Musiken der Münchner Gruppe 48Nord geht das rauf auf die Rutschen, rein in die Schritte, die Breakdance-Verbiegungen, die Ballettsprünge, die skurrilen Arm- und Handbewegungen. Und dieser komplexe Stil-Mix wird mit einer solch lustvollen Bravour und einem Affentempo in die Spielplatz-Manege gefetzt, wie man sie noch vor kurzem dem Staatsballett nicht zugetraut hätte. Nicht zugetraut hatte man dem Choreografen, dass er etwas von den existenziellen Befindlichkeiten und Stimmungen im Text erfassen würde. Aber: Zwischen dem Machismo des Messerwerfers, den Eifersüchteleien seiner beiden Frauen, den Clownerien seiner Leute hängt da immer wieder eine Atmosphäre der Verlorenheit, der Ziellosigkeit über dem Platz. Und so betriebsam die Figuren miteinander agieren – allen haftet eine Einsamkeit an, eine Flüchtigkeit und Vergänglichkeit.

Am Ende lässt das Messerwerfer-Mädchen im Sandkasten Sand durch die Finger rinnen. Ein leises schönes Bild. – Der zur Premiere angereiste Dichter Wondratschek, der selbst schon seit Jahren diese 35 Gedichte vertanzt sehen wollte, dürfte eigentlich nicht enttäuscht sein.

Am 1. und 2. Februar im Prinzregententheater, jeweils 19:30 Uhr.

 

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