Richard Siegal geht (zurück) nach Bayern
Das Staatstheater Nürnberg bekommt ab der Spielzeit 2025/26 einen neuen Ballettdirektor
Canto, Canto – ich singe. Nacheinander nehmen die Buchstaben ihren Platz auf der hohen Wand ein, die sich von der Bühnenmitte aus Richtung Zuschauertribüne wölbt. Es sind die ersten Worte eines 45-minütigen Wortflusses, der die Welt poetisch und mehrdeutig als Ort lebendiger Natur, Schauplatz irrsinnigen, zivilisationsfeindlichen Wettbewerbs um Geld und Ideen und als Raum existenzieller menschlicher Selbstbefragung beschreibt. Richard Siegel singt diese Worte, mal in hohen gequetschten Tönen, mal stöhnend, keifend, dann brüllend, sobald wieder zart und hell, dazwischen immer wieder sein lauter Atem, während sein Körper, schwarz ist der Kopf und bauschig gefedert seine Beinpartie, unablässig wie wehendes Schilfrohr in einer windigen Nacht durch den dunklen Raum eines offenen Universums tänzelt, in der Form einem schwarzen Schwan ähnelnd. Kurze Variationen dazwischen bilden Szenen, in denen graue Videobilder mit einer in die Tiefe springenden Kapuzengestalt erscheinen; außerdem eine große Stofffratze, die Siegal wie Ballast mit auf die Bühne schleppt.
„BLACK SWAN“, so der Titel dieser Uraufführung in dunklem Dämmerlicht für die aktuelle Ausgabe der Münchner Biennale DANCE, ist ein Meisterwerk geworden, um es gleich zu sagen − auch wenn das Publikum gespalten reagiert. Der Applaus tropft spärlich, Buhrufe mischen sich mit einzelnen Bravos. Was war zu erleben – oder auszuhalten in positivem Sinne? Was mutete Siegal einem zu? Nichts weniger als ein Künstler, der sich konsequent einer selbst geschaffenen, elektronisch selbst gesteuerten Raum-, Sound- und Sprachszenerie aussetzte, die an Christoph Ransmayrs apokalyptische Landschaften erinnerte. Bilder und Sprache und der ganze Mensch sind dort verloren gegangen, und es ist die Schrift, die den Bildern wieder vorausgeht. Siegal entwirft die Bilder, fast nur Schemen, mit seiner feingliedrigen Physis, die ständig mehrere Bewegungszentren durchläuft und wieder hinter sich lässt. Man ahnt ihre Korrespondenz zu den Wörtern, Halbsätzen und Gedichten, die man unentwegt mitliest, während er sie intoniert, wie Orpheus, der Dichter und Musiker der griechischen Mythologie, der mit seinem Gesang Räume öffnete, die die Grenzen von Realität und Wirklichkeit überwinden. Dass Siegal das Motiv des Schwarzen Schwans als semantische Bedeutungsebene einzog, ist ein großartiger Kniff. Er verweist damit nicht nur auf die Vorstellung einer letzten Welt, in der nur das Tier, nur der letzte Mensch übrig bleiben; er erlaubt auch dem Tanz, um eine weitere Deutungsdimension dieser Performance anzureißen, eine Selbstreflexion: Bildet er im Blick auf die Ära des zaristischen Balletts im narrativen Zusammenhang von „Schwanensee“ ein dichtes Symbol einerseits für Sinnlichkeit und Leidenschaften, andererseits für den Einbruch einer imaginären Welt in eine diesseitige Ordnung, funktioniert das Motiv in Siegals Inszenierung darüberhinaus als Darstellung und Verkörperung letztmöglichen Tanzes im Angesicht zeitlosen Daseins in leerem Raum. Sehr mutig.
Vielfach überfrachtet erscheint im Vergleich dazu Sidi Larbi Cherkaouis großformatige Ensemblearbeit „Puz/zle“. Wo Siegal seinen Ausgangs- und Blickpunkt von einem Raum der totalen Leere aus wählte, entschied sich Cherkaoui für die Totalperspektive auf die Zivilisationsgeschichte, die er in archaischen Bildern vorm Auge des Zuschauers aufblätterte, unterfüttert von grandiosem Gesang der korsischen Vokalkünstler der Gruppe „A Filetta“, der Arbeit von Kazunari Abe am Kodo-Schlagzeug und Fadia Tomb El-Hage, die musikalische Traditionen des Nahen Ostens aufleben ließ. Es ist ein Theater der Welt, ein Entwurf von Weltgeschichte in den Kategorien von Aufbau und Untergang, von Zerstörung und Neubeginn, von Monumentalisierung und Verschwinden, von Töten und Beharren, Vergangenheit und Gegenwart, das Cherkaoui da mit seinen elf herausragenden Tänzerinnen und Tänzern zündete. Weiterer Akteur des schweren Spektakels: Kleine, große und riesige Imitationen von Steinen und Flächen, die ständig umgebaut, verschoben, weitergereicht werden, den Raum zerteilen und neu bilden und zu denen sich die Tänzerinnen und Tänzer nahezu durchgehend symbolisch verhalten: Das archaische Tötungsritual der Steinigung wird ebenso dargestellt wie die harmonische Hinwendung zu den Kräften der Natur; das Ritual des Bauens bis in den Himmel ebenso wie die Zerstörung des Geschaffenen. Signifikant: immer wieder die Mauer, Schlüsselmotiv in Cherkaouis Schaffen, als Symbol für Trennung, als Sinnbild für Aufzuhebendes, als Darstellung eines Ortes, an dem Massen durch Erschießung getötet werden. Eine Lösung, ein Verweis auf eine Utopie gibt es in dieser Darstellung eines ewigen Zyklusses nicht, eher die Behauptung der These, dass die Gegenwart auf den Untoten der Vergangenheit sich erhebt. Bedeutungsschwerer geht´s kaum.
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