Ein Bilderbogen aus der Musik

Neumeiers „Dritte Sinfonie von Gustav Mahler“

Hamburg, 22/06/2012

Es begann als ganz besonderes Galastück: John Neumeiers „Dritte Sinfonie von Gustav Mahler“, seine erste große Mahler-Choreografie, von der er 1974 zunächst nur den vierten Satz unter dem Titel „Nacht“ für Marcia Haydée, Richard Cragun und Egon Madsen umsetzte, für eine Gala in Stuttgart zum Andenken an John Cranko. Knapp ein Jahr später hatte Neumeiers monumentale „Dritte Sinfonie“ in Hamburg Premiere und wurde zu einem Welterfolg und einem Paradestück der Hamburger Kompanie, der das Stück gewidmet ist. Nur einmal gab Neumeier es einem anderen Ensemble zu tanzen, in einer denkwürdigen Aufführungsserie des Balletts der Pariser Oper in der Opéra Bastille im Jahr 2009.

Wenn John Neumeier ein sinfonisches Ballett choreografiert, muss das keineswegs bedeuten, dass es sich um ein völlig handlungsloses Werk handelt: So ist das Stück aufgeladen mit unterschwelliger Bedeutung, die Raum für viele Interpretationen lässt. Mahler selbst erdachte für die Sätze seiner Sinfonie Titel, die Neumeier allerdings nicht genauso übernimmt: Er überschrieb die sechs Teile seines Balletts mit „Gestern“, „Sommer“, „Herbst“, „Nacht“, „Engel“ und „Was mir die Liebe erzählt“.

Im ersten, fast eine Dreiviertelstunde dauernden Teil bilden 24 Männer in wechselnd gefärbten Hosen und mit meist nackten Oberkörpern vor schwarzem Hintergrund (Kostüme und Licht: John Neumeier) immer neue phantasievolle Gruppen, Berge, Türme, Kreise und Pyramiden, mit besonderem Akzent auf Sternformen und fächerartig ausgebreiteten Armen. Die angespannte, bedrohliche Atmosphäre, die marschierenden Bewegungen und die geballten Fäuste, mit denen sich die Tänzer immer wieder auf die Brust schlagen, weisen auf Kriegsgeschehen hin. Immer wieder scheinen Einzelne ausbrechen zu wollen, indem sie die Hände weit in die Höhe oder nach vorne recken; andere werden beim allgemeinen Marschieren scheinbar niedergetrampelt. Konstantin Tselikov, der den Satz mit einem furiosen, beinahe besessenen Solo beschließt, breitet mehrmals alle Glieder sternförmig weit aus, fällt hart auf die Bühne und wird schließlich halb von einem sich um ihn auftürmenden Menschenberg begraben. Nachdem er mit einem weiten Sprung die Bühne verlassen hat, ändert sich die Atmosphäre vollkommen: Der dunkle Hintergrund weicht einem lichthell gelben und der zweite Teil beginnt.
Das zweite Bild, von Neumeier frei nach Mahler mit „Sommer“ betitelt, eröffnet mit dem Auftritt zarter junger Frauen und zweier Paare in Pastellfarben. Der dem Kriegstreiben entflohene Riabko tauscht zärtliche Blicke mit einer vorbeigehenden Schönen. Auch im darauffolgenden „Herbst“-Teil nähert er sich schüchtern an eine Dame an, verlässt sie wieder, während Anna Laudere und Edvin Revazov wie Boten aus einer anderen Welt mehrmals die glücklichen Paartänze um sie erstarren lassen, um sich sehnsuchtsvoll aneinander zu klammern und schließlich doch zu verlieren.

Eine weitere deutliche Zäsur bildet der vierte Satz, der in völliger Stille beginnt. Vor abermals schwarzem Hintergrund tanzen Hélène Bouchet, Thiago Bordin und Alexandre Riabko Soli, die Verzweiflung und Verlorenheit ausdrücken. Alle drei scheinen einzeln gegen ihr Schicksal anzurennen und mit sich selbst zu kämpfen - Bordin schreit stumm auf, während Riabko sich in seinen eigenen Gliedern verstrickt und Bouchet wie resigniert am hinteren Bühnenrand steht. Erst nach einiger Zeit nehmen die beiden Männer einander richtig wahr, berühren sich und lehnen gegen einander, worauf die Musik einsetzt und erstmals an dem Abend eine menschliche Stimme ertönt: Maria Radner singt „O Mensch! Gib acht!“ aus Nietzsches „Zarathustra“. Daraufhin eilt auch Bouchet wie Schutz suchend zu ihren Partnern, die sie befreiend in die Luft heben. Gemeinsam scheinen sie Trost zu suchen und zu finden - so legen die drei am Schluss innig die Hände übereinander und schmiegen sich wie zu einem einzigen Körper aneinander, wohl als Anspielung auf Crankos Kompanie, die nach dem Schock seines Todes durch den Zusammenhalt seiner Tänzer überlebte.

Im fünften Teil findet schließlich auch der unermüdliche Alexandre Riabko noch die Dame seines Herzens in Silvia Azzoni. Diese ignoriert ihn zwar zunächst, legt dann aber ihren anfänglichen kindlichen Übermut ab, um in den Armen des wie erlöst wirkenden Riabko schwerelos zu fliegen und zu kreisen und schließlich auf seinen Schultern in einer Kerze zu balancieren. Doch auch die Erscheinung dieses „Engels“ ist nicht dauerhaft, denn das Ballett endet mit dem Bild des verlassenen Riabko, der vergeblich die Arme nach der langsam davon schreitenden Geliebten ausstreckt. Der fundamental einsame Mensch, der dem ständigen Wechsel von Glück und Verlust ausgesetzt ist, hat hier keinen Anteil an der allgemeinen hoffnungsvollen Aufbruchsstimmung, die Mahler durch die triumphalen, versöhnlichen Klänge am Ende seiner Sinfonie schafft und die den Rest der Kompanie zu durchpulsen scheint. Ein Triumph ist das Stück dennoch für Riabko, dessen Energie in diesem beinahe zweistündigen, pausenlosen Ballett nie zu schwinden scheint, genauso wie für die ganze grandiose Kompanie und das Orchester unter der Leitung von Markus Lehtinen.

Besuchte Vorstellung: 21.6.12

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