Superglue und Subkultur

1200 Zuschauer feiern das Scapino-Ballet Rotterdam im Forum am Schlosspark

Ludwigsburg, 21/09/2012

Der Tanzhunger in Ludwigsburg ist groß, wurde er mit einer einzigen Tanzproduktion in der vergangenen Schlossfestspiel-Saison, die zudem dem Chorgesang geweiht war, beileibe nicht gestillt. So strömen 1200 Ballett-Liebhaber zum Spielzeitauftakt (des Ludwigsburger Kulturamtes, weit über die Stadtgrenzen bekannt für sein erlesenes Gastspiel-Programm) quasi zum Fastenbrechen ins Forum, wo sie das Scapino-Ballet Rotterdam erwartet. Keine leichte Kost: Marco Goeckes „Beautiful Freak“ (Schöner Spinner), eine Hommage an die Jazz-Ikone Chet Baker, ist ein Nachtstück aus dem Jahr 2005, aufgehellt durch Flämmchen, geschnippt auf Feuerzeugen. Ed Wubbes „Kathleen“, uraufgeführt 1992, ist eine Choreografie der Nach-Punk-Ära, die sich mit den Schattenseiten des Lebens Jugendlicher befasst.

Wubbe, der zu diesem Zeitpunkt die Leitung des ursprünglich neoklassischen Ensembles übernimmt, gelingt mit dem Stück der Durchbruch. Den Körper Härtetests aussetzen, knochenbrecherische Risiken und eiskalter Wettstreit kennzeichnen den Zeitgeist neben provokantem Sexismus: „Kathleen has a big cunt“, das steht als Graffiti auf der unüberwindbaren grauen Betonmauer im Hintergrund. Offen für Ideen und Wünsche seiner Tänzer bündelt Wubbe, zum teils schleppenden, teils hämmernden Noise-Rock der britischen Band Godflesh, eine Fülle von Bewegungsidiomen: Die sechs Mädchen springen wie Flummis und lassen in kurzen schwarzen Röcken an die belgische Gruppe Rosas denken. Die neun Jungs nehmen Hürden wie einst das Physical Theatre der englischen Männer-Crew DV8. Der Geschlechterkampf gipfelt in Sprüngen wie der horizontalen Pirouette, mit der die Kanadierin Louise Lecavalier den zeitgenössischen Tanz überraschte und berauscht sich an einem Kreisritual à la Pina Bauschs „Sacre“. In der Trostlosigkeit urbaner Brachen und jugendlicher Subkultur schimmern Hoffnungsmomente, so wenn nach den brachialen Industrieklängen ein Tänzer dem Klavier eine lyrische, kleine Melodie entlockt.

Unersättlich scheint der Bewegungshunger von Tänzern. Goecke weiß das, nutzt das und bändigt das Tanztier im Tänzer, indem er den Körper in permanente Muskelspannung versetzt: trippelnde Schritte, zitternde Glieder, flirrende Hände − zu Michael Jüllichs „Trommelliedern“ holt er sie aus dem fernen Dunkel eines nur durch Klang und Bewegung definierten Raums. Lässt sie über den Boden robben, dabei grunzen und mit erwähnten Feuerzeugen schnippen. Nackter Oberkörper, dunkle Hose. So verschwindet der Unterkörper wie ein Ninja in der Dunkelheit, unsichtbar, jedoch umso präsenter spürbar.

Der Körper als Filter und Ventil energetischer Hochspannung entlädt sich in blitzschnellen Arm- und Beinschwüngen, rund und geschmeidig wie Vogelschwingen oder kantig und hart. Dazu unterfüttert samtweicher Blues aus der Tiefe einer tragischen Seele (Chet Baker) das an- und abschwellende Klopfen der Trommeln. Jeder für sich, kauern sie wie Krebse am Boden, als urplötzlich Kontrabässe krachend auf dem Boden zerschmettern. Eine Metapher für Bakers Tod, um den sich Legenden ranken. Gewiss ist, dass er am 13. Mai 1988, einem Freitag, aus dem Fenster seines Zimmers im Prins Hendrik Hotel in Amsterdam stürzte und sofort tot war.

Das Gastspiel in Ludwigsburg ist die Dernière des Ballettabends. Voll Elan und technisch versiert tanzt sich das hochkarätige Ensemble die Seele aus dem Leib. Das Publikum ist auf den Geschmack gekommen, auch wenn’s – oder gerade weil − es keine leichte Kost war. Und die Kontrabässe? „Das sind die billigsten, die wir kriegen konnten, aus China“, verrät Ralitza Malehounova beim Nachgespräch: „Mit Superglue werden sie wieder zusammen geklebt“. Wenn das die Chinesen wüssten!

 

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