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Malve Gradinger im Gespräch mit Lorca Massine
„Forever Young“ – mit diesem Titel wirbt das Bayerische Staatsballett zeitgemäß trendig für seine Saisonauftakt-Premiere im Münchner Nationaltheater. Neben „Broken Fall“ des Briten Russel Maliphant von 2003, bereits im Januar erworben, kommen zwei Stücke ins Repertoire, auf die das Prädikat „ewig jung“ zutreffen könnte: Die „Othello“-Version „The Moor's Pavane“ von 1949 des US-Modern-Dance-Pioniers José Limón, das 1988/89 unter Ballettchef Günter Pick schon im Münchner Gärtnerplatztheater zu sehen war. Dazu „Choreartium“ von 1933 des berühmten Léonide Massine (1895-1979), der die Ära der Ballets Russes mitprägte. Lorca Massine, wie sein Vater Tänzer und schon mit 19 Choreograf, studiert das vom holländischen Künstler Keso Dekker ganz neu ausgestattete Ballett selbst mit dem Bayerischen Staatsballett ein.
Redaktion: „Choreartium“ zu Brahms' 4. Symphonie will nicht einmal die Andeutung einer Geschichte liefern, sondern ausschließlich die Struktur der Musik mit Tanz sichtbar machen...
Lorca Massine: Ja, indem die Choreografie sich exakt an die verschiedenen Tempi, Betonungen, Verzögerungen der Musik hält. 1933 war das, vor allem zu sinfonischer Musik, das erste konzertante Ballett dieser Art. George Balanchine hat erst sieben, acht Jahre später so gearbeitet. „Choreartium“ ist aber auch dreidimensional, geht wie Architektur in die Höhe und in die Tiefe. Inspiration waren für meinen Vater die Türme des Mailänder Doms. Und das Corps de ballet – es hat hier viel mehr zu tun als die Solisten – wird als eine Einheit behandelt, als eine reich orchestrierte Einheit.
Redaktion: Und Interpretationshinweise? Liebe, Hass, Rache wie bei einem Handlungsballett geht hier ja nicht.
Lorca Massine: Ich sage den Tänzern: Stellt euch vor, Ihr seid die Berliner Philharmoniker... Der Körper ist ja das außergewöhnlichste Instrument überhaupt. Wir haben das Gesicht, die Schultern, den Rücken, die Knie, die Geschwindigkeit, die Sprunghöhe – unzählige Möglichkeiten. Die Beine liefern die Technik. Die ist, Gott sei dank, viel besser als früher. Ich arbeite aber auch am Torso, an den Armen, was ganz andere Qualitäten ergibt. Viele Choreografen vernachlässigen leider den Oberkörper.
Redaktion: Ballets-Russes-Impresario Sergei Diaghilew holte ihren Vater 1914 vom Moskauer Bolschoi Ballett für die Titelpartie in Mikhail Fokines „Josephslegende“. Diesem Debüt folgte eine steile Karriere als außergewöhnlicher Charakter-Tänzer und Tanzschöpfer, zunächst in den legendären Ballets Russes, später in deren Nachfolge-Kompanien und vielen anderen renommierten Ensembles. Hat Ihr Vater davon erzählt?
Lorca Massine: Jeden Tag, jede Minute. Private Zeit für uns Kinder, väterliche Zuneigung gab es nicht. Es ging nur um seine Arbeit. Und entsprechend war meine Ausbildung umfassend, vom Klavier- bis zum Theater-Unterricht. Ich habe in meiner Laufbahn auch Theater gespielt. Und natürlich Tanz-Training. Meine Schwester Tamara und ich hatten viele Lehrer (u. a. Yves Brieux und Victor Gsovsky, Anm. der Red.). Aber im Grunde lernte ich alles direkt von ihm, verschiedene Tanzstile, spanische Tänze. Sein de-Falla-Ballett „Der Dreispitz“ studierte er mir selbst ein. Die Rolle des Müllers, sonst seine Rolle, tanzte ich dann auf Tournee.
Redaktion: Ihr Vater war so vielseitig interessiert. Er studierte sogar die Tänze der amerikanischen Indianer, präsentierte Lecture Demonstrations.
Lorca Massine: Ja, wir tourten damit durch Deutschland. Er hielt die Vorträge, ich tanzte diese originalen indianischen Volkstänze.
Redaktion: Sie sind Erbe des choreografischen Werks ihres Vaters, studieren es an allen großen Bühnen zwischen London, Moskau, New York, und Paris ein, gleichzeitig an denselben Häusern auch ihre eigenen Ballette. Entsteht da nicht, quasi posthum, eine Konkurrenz?
Lorca Massine: Nein. Er ist für mich der größte Choreograf überhaupt. Ich bewundere ihn sehr. Aber wir sind künstlerisch ganz anders ausgerichtet. Er choreografierte reine Tanz-Ballette, ich hingegen eher Ballett-Theater nach literarischen Vorlagen von Kafka, Thomas Mann, Nikos Kazantzakis. Und meine Arbeiten haben meinem Vater auch gefallen. Diaghilew hat ihn ja im Bolschoi in einer Schauspielrolle entdeckt.
Redaktion: Zu Deutschland, speziell zu München, haben Sie eine besondere Beziehung. Sie waren verheiratet mit der 2000 verstorbenen Angèle Albrecht, von 1967-79 führende Solistin in Maurice Béjarts Brüsseler Ballet du XXe Siècle, wo Sie auch tanzten. Angèle Albrecht, Schwester übrigens der Münchner Schauspielerin Beles Adam, stammt aus einer hiesigen Malerfamilie. Und Ihr gemeinsamer Sohn lebt ja auch hier in München.
Lorca Massine: Stimmt. Mein Sohn kommt natürlich jetzt zur Premiere. Und Deutschland, ja, hier hatte ich 1963 die ersten Erfolge mit meiner European-Ballet-Company. In Bonn gastierte gerade das Litauische Nationalballett erfolgreich mit meinem Kazantzakis-Ballet „Zorbas“. Und ich fände es sehr schön, wenn es auch irgendwann hier zu sehen wäre.
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