Polina Semionova im „Nussknacker“
Polina Semionova im „Nussknacker“

Der erste Neumeier

Polina Semionova zu Gast in München

München, 07/12/2012

Ballett-Märchen in der (Vor-)Weihnachtszeit, das hat weltweit Tradition. Glück fürs Bayerische Staatsballett, dass es mit John Neumeiers leicht modernisierter Fassung von Tschaikowskys „Nussknacker“ von 1971 (nach Petipa/Iwanow von 1882) das stimmigste Weihnachts-Tanzmärchen überhaupt im Repertoire hat: Im Traum wird die kleine Marie nicht ins Reich der Zuckerfee entführt, sondern in die malerisch ästhetische Welt des Balletts, in der ihre Schwester Louise die Primaballerina ist. Glück fürs Münchner Publikum, soviel wagt man vorab zu behaupten, dass Polina Semionova hier dreimal die Louise tanzen wird.

Semionova – eine besondere Tänzerin. Berlins Staatsballett-Intendant Vladimir Malakhov hatte ein gutes Auge, als er die 18jährige Moskauer Ballettakademie-Absolventin – hochgewachsen, feine Gesichtszüge – 2002 engagierte. Gleich als Solistin. Sie wurde seine Star-Ballerina, war Malakhovs Partnerin auf seinen traditionellen Japan-Tourneen. Und tanzte in diesen zehn Jahren viele große Rollen zwischen Klassik und dramatischer Neoklassik, von der Nikija in „La Bayadère“ bis zu John Crankos „Onegin“-Tatjana, um nur ein paar zu nennen.

Im vergangenen September wechselte sie ans renommierte New Yorker American Ballet Theater (ABT). Ein Schock, ein Verlust für Berlin. „Es war Zeit für einen Wechsel. Künstler müssen sich weiter entwickeln. Und mein Herz und mein Kopf sind immer offen für Neues“, sagt sie in ihrem russisch bildhaften Deutsch. „‚Nussknacker‘ ist mein erster Neumeier. Bei ihm geht es nicht nur um Technik, Schritte, Pas de deux. Nein, alle Bewegung hat bei ihm eine Bedeutung. Natürlich gibt es in diesem Märchen kein großes Drama. Trotzdem, gleich welches Ballett, Neumeier, das ist: Stil. Es war immer mein Traum, mit ihm zu arbeiten – und eines Tages seine „Kameliendame“ zu tanzen.“

Wie sie von Neumeier spricht, wie viel Achtung sie Kollegen entgegenbringt, geht über die bei Tänzern so wohl bekannte und ja durchaus verständliche Besessenheit hinaus. Semionova strahlt mit jedem ihrer Worte eine Art Verehrung für den Tanz aus – in dem sie sich nicht als Zentrum sieht. „Es gibt keine Solisten, es gibt kein Ballett, keine Compagnie ohne Gruppentänzer“ sagt sie voller Respekt. „Es ist ja auch durchaus nicht so, dass nur vom Solisten Gefühl und Interpretation erwartet wird. Und w e n n das Ensemble mit Gefühl tanzt, dann spürt das Publikum das auch...Und als Tänzerin empfinde ich die Energie der Gruppe immer als Unterstützung, als Kraftquelle für mich selbst.“

Und was erwartet sie von ihren Partnern? Bisher hat sie vorwiegend mit großen Stars getanzt, neben Malakhov mit Roberto Bolle von der Mailänder Scala, José Manuel Carreno vom ABT, Mathieu Ganio vom Ballett der Pariser Oper und Igor Zelensky vom St. Petersburger Mariinsky Ballett. Semionova, immer sehr behutsam in ihren Aussagen: „Es kann schon passieren, dass zwischen zwei Tanzpartnern nicht immer alles perfekt funktioniert. Wichtig ist vor allem, einander zu ‚hören‘ und zu fühlen. Für mich ist es interessant, eine Rolle immer wieder mit neuen Partnern zu tanzen, weil ich dann für diese Rolle wieder ganz andere Facetten finden kann.“ Dazu hat sie jetzt jede Menge Gelegenheit.

Im ABT warten auf sie Kenneth MacMillans „Romeo und Julia“, Balanchines „Symphonie in C“ und ein neues Ballett zu Schostakowitschs 9. Sinfonie von ABT-Hauschoreograf Alexei Ratmansky. Und neben München, wo man sie im März 2013 in „La Bayadère“ sehen wird, hat sie auch noch Gastverträge an der Dresdener Semperoper und im Ballett des St. Petersburger Michailowsky-Theaters. Eine blendende „Ensemble-Mischung“. Im Michailowsky-Ballett, seit 2011 unter der erfolgreichen Leitung des auch im Staatsballett-Repertoire vertretenen katalanischen Choreografen Nacho Duato, kann sie wahrscheinlich auf Kreationen rechnen (Die St. Petersburger Truppe gastiert übrigens mit Duatos „Dornröschen“-Ballett am 23. und 24. April 2013 in der Ballettwoche des Bayerischen Staatsballetts).

Dramatische Ballette, wo sie spielen kann, sind ihr die liebsten. Aber sie tanzt alles gerne, auch moderne Stücke. Mit einer neoklassisch-modernen Choreografie in Herbert Grönemeyers Musikvideo „Demo (Letzter Tag)“– abrufbar auf Youtube - wurde sie übrigens auch einem Nicht-Ballettpublikum bekannt. Ihre natürliche Anmut spricht jeden an. Und auch technisch ist sie hervorragend, die höllischen „fouettés“ inklusive. Wie schafft ihr langgliedriger Körper das, der nicht die stählerne, eher nur eine lyrische Ballerina vermuten lässt? „ Es ist tatsächlich so, wie Sie sagen: bei langem Rücken, langen Armen und Beinen ist die Koordination anders. Der Körper ist nicht so kompakt wie bei kleineren Mädchen. Für mich bedeutet das viel Arbeit, viel Krafteinsatz. Aber auch vor allem, die Anstrengung zu analysieren, warum jetzt ein Sprung oder die Pirouetten funktionieren oder eben nicht. Jeder Körper ist anders. Und da man muss für sich selber Strategien entwickeln, wie man seine persönlichen physischen Schwierigkeiten überwindet.“

Trainieren mit Disziplin und Kopf, das hat sie schon an der Bolschoi-Akademie gelernt. Eigentlich noch früher, dank musisch engagierter Eltern. „Meine Schwester ging in die Musikschule, ist ausgebildete Pianistin. Mein Bruder und ich haben schon mit drei Jahren mit Eiskunstlauf angefangen. Er ist auch Tänzer geworden“, erzählt sie. Kinder will sie selbst später auch einmal. Verheiratet ist sie schon, mit einem türkischen Tänzer, der im Staatsballett Berlin engagiert ist. Da muss also oft gependelt werden? „Wir planen gut“, lässt sie wieder ein Sonnenlächeln in den großen dunklen Augen aufleuchten. „Und zwischen meinen Verpflichtungen bin ich ja zuhause und habe für alles Zeit.“ „Nußknacker“ im Münchner Nationaltheater mit Polina Semionova am 7., 9. und 13. 12, 19 Uhr 30. 

 

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