Außerhalb der Norm

Der Choreograf und Tänzer Raimund Hoghe

Düsseldorf, 06/11/2012

Unbestritten ist er der außergewöhnlichste deutsche Choreograf, in mehrfacher Hinsicht „außerhalb der Norm“, wie er selbst sagt − der gebürtige Wuppertaler, Journalist und Buchautor, Dramaturg von Pina Bausch (von 1980 bis 1990) und seit 1992 Choreograf und Tänzer. Kleinwüchsig und mit einem Buckel entspricht Raimund Hoghe mitnichten dem Ideal eines Tänzers im klassischen Sinn. Seine oft verschlüsselten, düsteren Stücke leben von Momenten des Erinnerns, vom kontrastreichen Dialog mit Partnern, Kulturen und der bildenden Kunst oder Musik. Seine Bühnenpräsenz speist Hoghe aus einer Aura von Würde, Stille und Menschlichkeit. Während er selbst mit gemessenen, oft geradezu meditativ anmutenden Gesten, Schritten und Posen und wenigen Accessoires Rituale zelebriert, entspinnt sich in seinen Auftritten kontinuierlich ein mehr oder minder subtiles Miteinander zwischen Nähe und Distanz zum Bühnenpartner, aber auch zum Publikum.

23 Produktionen hat Hoghe bislang geschaffen, dazu acht einmalige Projekte − gerade in Essen zum Auftakt des 20-jährigen Jubiläums „Ich erinnere mich“ − und vier Filme, darunter das Selbstporträt „Der Buckel“ (1998). Seine eigene, wirkliche Tanzzeit rechnet er seit der Begegnung mit dem Münsterschen Installations-Künstler Luca Giacomo Schulte, der die Cie. Raimund Hoghe bis heute als vielseitiger künstlerischer Mitarbeiter begleitet.

Das Jubiläum begeht Hoghe bis zum 11. November mit einem Festival, das er und langjährige Begleiter wie etwa Sarah Chase, Charlotte Engelkes, Lorenzo De Brabandere, Emmanuel Eggermont und Takashi Ueno an 20 aufeinander folgenden Tagen mit Aufführungen auf Pact Zollverein (Essen), im Theater im Pumpenhaus (Münster), im Schauspielhaus und tanzhaus nrw (Düsseldorf) feiern. Wie sehr manche von ihnen, die auch selbst choreografieren, sich seiner „Handschrift“ anpassen, zeigte gleich zu Beginn die Uraufführung des sehr poetischen Duetts „Jardin de nuit“ von und mit Lorenzo De Brabandere und der französischen Tänzerin Marie Capdeville (am 1.11. in Münster).

Die Berliner Fotografin Rosa Frank, die ebenfalls von Beginn mit Hoghe arbeitet, nennt ihre begleitende Fotoausstellung nach Hoghes eigener Beschreibung seiner Physis „Körperlandschaften“. Das Buch „Schreiben mit Körpern“ (Gerald Siegmunds Referenz auf den analytischen Journalisten Hoghe) erschien eigens zu diesem Jubiläum. Darin untersuchen Tanzpublizisten und Theaterwissenschaftler wie Katja Schneider, Thomas Hahn und Gerald Siegmund eingehend, einfühlsam und mit großer Offenheit unterschiedlichste Aspekte von Hoghes Werk und Stil. Er selbst ist mit drei Beiträgen vertreten, darunter seine „Anmerkungen zu Behinderten auf der Bühne und anderswo“. Überschrieben hat er den Text mit einem Zitat von Pier Paolo Pasolini, das ihn zu seiner Bühnenkarriere ermutigte und wohl bis heute stützt: „Den Körper in den Kampf werfen“, um „sich etwas mit Hilfe des Leibes zu vergegenwärtigen“ (zitiert von Andreas Backoefer).

„Meinwärts“ nannte Hoghe sein erstes Solo, in dem er nackt auftrat, um seine „Verunstaltung“ als Teil seiner Kunst einzubeziehen. Als provokatives „Zurschau-Stellen“ empfanden das viele deutsche Zuschauer und auch Kritiker. Immerhin aber erhielt Hoghe 2001 den Deutschen Produzentenpreis für seine sinnliche, mutige Kunst. 2008 war er in der Umfrage der Zeitschrift „ballett-tanz“ Tänzer des Jahres. In Frankreich, wo er seit dem ersten Auftreten als „choreografische Sensation“ (Katja Schneider) gefeiert wird, kürten die französischen Kritiker „Swan Lake, 4 acts“ 2006 zur besten ausländischen Produktion. Einen „Klassiker für Fortgeschrittene“ nannte eine New Yorker Kritikerin die schwer zugängliche Choreografie. Stets geht Hoghe bei seinen „klassischen“, mosaikartig zusammengefügten Choreografien aus Text-, Musik- und Schrittzitaten in aller Ausführlichkeit, akribischer Kenntnis des Originals und mit gelegentlicher Selbstironie in die Tiefe, auch wenn er sich und dem heutigen Zuschauer nur einen Begriff aus dem klassischen Ballett nahebringt. Zwei pausenlose Stunden dauert zum Beispiel sein „Pas de deux“ mit dem hinreißenden Japaner Ueno (Deutsche Erstaufführung am 2.11.12 in Münster, Wiederholung am 7.11. in Düsseldorf). Das Festival endet am kommenden Sonntag im Düsseldorfer Schauspielhaus mit Hoghes ergreifender Hommage auf Maria Callas „36, Avenue Georges Mandel“; das ist die Adresse ihrer Pariser Wohnung, in der die Diva 1977 starb. Raimund Hoghe wird seine „Reise aus dem Dunkel ins Licht“ (zitiert von Kaja Schneider) hoffentlich noch lange unbeirrt fortsetzen.

„20 Jahre - 20 Tage“: Ein Festival in Essen, Münster und Düsseldorf bis zum 11.11.2012

Ausstellung: „Körperlandschaften“ mit Fotos von Rosa Frank

Buch: „Schreiben mit Körpern - Der Choreograph Raimund Hoghe“. Herausgegeben von Katja Schneider und Thomas Betz. Fotos von Rosa Frank K. Kieser Verlag, München 2012. Broschiert, 200 S. mit zahlr. Abb., 20 Euro, ISBN 78-3-935456-28-9

 

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