Juchzbunter Bilderbogen in Comicmanier

Birgit Scherzers „blutrot.schneeweiss. rabenschwarz“ in Schwerin

Schwerin, 11/05/2012

Dass Märchen trotz Grausamkeit im Detail Leben spiegeln, ist allgemein akzeptiert. In Schwerin nimmt Birgit Scherzer eine der populärsten Volksdichtungen zur Vorlage für ein prall aufs Heute zielendes Tanzstück. Als dies klassifiziert sie, was sie umschreibend nur „blutrot.schneeweiss.rabenschwarz“ nennt. Das funkelt nicht bloß in den Farben Schneewittchens, sondern ist auch deren Geschichte, erzählt unter modernem Aspekt und mit tiefenpsychologischer Unterfütterung. Das bleiche Kind ist hier ein seit Geburt mutterloses, von der Stiefmutter erst umhegtes Wesen, das gefährlich wird, als es ihr die Bewunderung versagt, weil eigenen, punkigen Ufern zustrebend. Da kommt Eifersucht auf, und an der lässt es die Stiefmutter nicht fehlen, bis hin zu Attentaten. Das letzte, scheintötliche führt sie selbst aus, Adam und Eva zitierend, als junger Knappe mit lockendem Apfel. Eros ist erwacht. Schneewittchen fällt darauf herein, beißt an, sinkt in Schlaf, bis ihr Prinz sie aus Trauer gehörig schüttelt und das Apfelstück zutage fördert. Da ist nicht nur seine, auch die Zwergenfreude groß, und sogar die üble Stiefmutter darf mit ins finale Grinsbild hinterm Spiegel.

So ereignet es sich im Groben 90 pausenfreie Minuten lang am krisengebeutelten Mecklenburgischen Staatstheater, wo Birgit Scherzer seit ihrer überarbeiteten Fassung von „Frauen – Männer – Paare“ ein Erfolgsgarant ist. Auch die Rotweißschwarz-Story mit Märchenmotiven gewinnt das Publikum und hat einiges für sich. Dass der Ton vom Band kommt, ist auch seiner Vielfalt geschuldet: Violinkonzert, Streichquartett von Philipp Glass, sechs Sätze aus drei Streichquartetten Beethovens, Musik zudem von Hugues le Bars, Pierre Schaeffer, Pascal Comelade schultern die Handlung. Die Choreografin gliedert sie in 13 Teile.

Gleich der Anfang zeigt aber auch die Tücken einer Collage aus fertigem Klang: Die Länge der Musiken bestimmt die Dauer des Tanzes, selbst wenn, wie im Fall der Geburt mit Todesfolge für die Mutter, bereits alles gesagt ist. Gestorben jedoch wird in dieser Lesart eh nicht. Noch vor ihrer Niederkunft entschwindet die Mutter; das Tier, dessen Herz der Jäger der Stiefmutter vorlegen muss, mutiert zum Bunny aus Disney-Welten, flirtet mit seinem Häscher, rückt das Organ freiwillig heraus; und auch die böse Auftraggeberin rutscht „nur“ auf dem roten Teppich, der Reichen und Schönen zur Selbstdarstellung dient, aus und ist damit gesellschaftlich lächerlich gemacht.

Den Eindruck eines juchzbunten Bilderbogens mit Comic-Anleihen liefert schon die zweite Szene. Krabbelkids des Kinderballetts posieren für den Preis von Siebenbergen aufgedonnert ladylike, schlüpfen in zu große Pumps ihrer Mütter, werden von denen an Bändern wie Hündchen kurzgehalten. Eines der folgsamen Mädchen ist bis zum Aufbegehren auch Schneewittchen, als sie nicht mehr Trickfigur ihrer Erzieherin, sondern Mitglied einer Gang sein will, in der sich die Geschlechter beäugen. Dort erfährt sie zu Klavier unter einer Mondsichel erste Zuneigung vom Prinzen, der sie später auch erlösen wird. Weil Stiefmutters Attraktivität zu verblassen droht, stachelt sie nach sportivem Duo mit ihrem Liebhaber, dem Jäger, jenen zum Tochter-Mord an. Im stilisiert grünen Wald bedrängt er die Zitternde, lässt sie dann doch ins Land der roten Riesenpilze entfliehen und sich selbst auf ein langes Wurf-Kriech-Duett mit Bunny ein. Im Drahtkäfig schweben die Zwerge geräuschvoll nieder, entpuppen sich unter der Dusche als frustrierte Kerle mit der griffigen Formel, Frauen seien scheiße, ehe sie in Rock und Zipfelmütze im heinzelmännlich tollpatschigen Marsch hinter ihre aufblasbaren Berge ziehen. Weshalb diese verbale Einlage nötig ist, wird nicht recht klar, zumal die Jungs nach überflüssigem Pinkeln unverzüglich auf Schneewittchen abfahren. Dennoch eine spielerische Szene.

In kannibalischem Akt saugt die Stiefmutter derweil der Tochter vermeintliches Herz aus, als sei sie Elisabeth Báthory, jene legendenumwobene ungarische „Blutgräfin“, und würgt den Jäger, als der Spiegel Schneewittchen und die Zwerge zeigt. Für die Erweckung der Toten durch den Prinzen hat Birgit Scherzer die schönste, tänzerischste Szene des Abends erdacht, holt danach alle Figuren zum Defilee. Amüsant ist ihre Version durchaus, ob tiefenpsychologisch lupenrein, mag jeder für sich entscheiden. Besonders den Solisten bietet sie dankbare Parts, so Davina Kramer als fulminant geforderter Stiefmutter, Nao Matsushita als fröhlichem Schneewittchen, dem leuchtenden Prinzen des Tom Bergmann, dem finsteren Jäger des Rustam Savrasov. Dass auch die Gruppe genügend Einsätze hat, ist ein weiterer Vorzug von „blutrot.schneeweiss.rabenschwarz“.

Wieder 18., 24.5., 1., 17.6.

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