Schneller Wechsel in Schwerin
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„Sancta“ von Florentina Holzinger nimmt sich mit Rollschuhen und Kletterwand der Religionskritik an
Holzinger im hohen Norden. So könnte man diese Geschichte, die Geschichte von „Sancta“ beginnen, der ersten Operninszenierung der preisgekrönten Schock-Choreografin Florentina Holzinger, die am Donnerstag im Mecklenburgischen Staatstheater in Schwerin herauskam. Im hohen Norden, im tiefen Osten, wo sich Protestantismus und Atheismus freundlich gute Nacht sagen, inszeniert Holzinger ein Stück, das vor allem katholische Symboliken rauf und runter dekonstruiert. Mal schwingen zwei – natürlich nackte – Frauen auf einem überdimensionierten Weihrauchschwenker über die Hinterbühne, immer wieder tritt der Opernchor im Habit der Nonnen auf, was wiederum einen klaren Kontrapunkt zu den punk-verliebten Performerinnen der noch einmal angewachsenen Holzinger-Familie setzt. Dann erklingen kirchliche Kyrie-Eleison-Klänge aus dem Orchestergraben unter der großartigen Leitung von Marit Strindlund, bloß um darauf wilde Pop-Nummern von der Band in den Seitenlogen oder gleich wild kreischenden Metal dagegen zu setzen. Schöpfungs- und Passionsgeschichte alles wird hier auf der Bühne schockgefroren in drastischen Bildern, wie man sie ja mittlerweile bei Holzinger-Abenden erwartet.
Religöse Shock-Therapie
Doch gleichzeitig trifft die religiöse Schock-Therapie auf keinen nennenswerten Widerstand. Man wird sehen, ob das etwa auf den Wiener Festwochen, die neben der Staatsoper Stuttgart und dem Bühnenkonglomerat Voksbühne und Komische Oper in Berlin als Koproduzenten dabei sind, noch provoziert. Hier aber rennt der religionskritische Ansatz schlicht offene Türen ein, stört aber auch nicht weiter, denn lieber viele Frauen mit einer Mission denn gar keine Haltung auf der Bühne. Und dass Holzinger es krachen lässt, ist sowieso klar.
Eine Kletterwand, die den Bühnenhintergrund einnimmt, eine Halfpipe auf der Performerinnen auf Rollschuhen hin und herflitzen und eine riesige Glocke, in der Frauen in verschiedenen Konstellationen als Klöppel fungieren, am Ende hängt gar eine Performerin nur an ihrem Haaren im Inneren des Klangkörpers. Ab in die Luft heißt es also, nachdem sich ja die letzte große Produktion „Ophelia got Talent“ vor allem im Wasser abgespielt hat. Ausgangspunkt ist dieses Mal die kleine Oper „Sancta Susanna“ von Paul Hindemith, die die Geschichte einer Nonne erzählt, die sich Gott so nahe fühlt, dass sie, nachdem sie ein Liebespaar aufgeschreckt hat, mit der Jesufigur selbst in den Verkehr kommen will. Ihre Ordensschwester Klementia will sie davon abbringen, denn als zum letzten Mal eine Frau so begierig auf die Liebe des Herrn war, wurde sie zu Strafe eingemauert. Während Cornelia Zink als Susanna und Andrea Baker als Clementia diesen Part performen (neben einen großen Würfel aus Mauerwerk), dringen um sie herum wie Schatten oder Dämonen die nackten Performerinnen auf die Bühne, hängen als kreuzförmige Körper an der Kletterwückwand und zwei von ihnen üben sich sehr plastisch im Geschlechtsakt – am Ende auf einem vom Bühnenhimmel kommenden Kreuz, das sich dann in ein Satanssymbol verwandelt. Aus dem Quader schließt entsteigt unter eindrucksvollen Geschrei und Metal-Musik die Musikerin otay:onii als eine weitere Dämonin und es ist klar, dass das freie Ausleben von weiblicher Libido, ja weiblichem Leben insgesamt unter solch religöser Knute nicht möglich ist. Der Abend buchstabiert das dann genüsslich aus.
An Fleischerhaken gegen Donnerbleche
Mal hat das sehr komische Elemente wenn die Magierin Malin Nilsson mit einem verblüffenden Trick Flaschen und Flaschen von Wein auf den Tisch zaubert oder Annina Machaz, die als vapender Jesus hier und da als Conferencier auftritt, mal eben ein Schaf erdrosselt. Wunderbar auch Saioa Alvarez Ruiz, die als eine Art Papst im weißen Ornat auf einen Industrieroboter am Bühnerand geschnallt wird und während sie hin und her geworfen wird, das neue Evangelium verkündet.
Doch überwiegen die drastischen Eindrücke. Da wird das berühmte Michaelangelo-Bild zerhämmert, zwei Performer werden über lange Zeit zu in Gips gepackte Betpuppen oder zum Abendmahl wird die Formel „Dies sei mein Leib für euch gegeben, wenn ihr davon esset“ sehr wörtlich genommen. Luz De Luna Duran operiert dazu Xana Novais ein kleines Stück Fleisch aus dem Bauch, das später in einer Pfanne zu bereitet wird. Alles gut zu sehen im Live-Video. Duran wiederum schwingt zur Premiere am Ende mit zwei Haken im Rücken zusammen mit Florentina Holzinger über der Halfpipe und schlägt gegen ein Donnerblech. Und zwischendrin singt der Chor vom Lamm Gottes oder der ewigen Barmherzigkeit, brav übertitelt, auch wenn dies vom zugewiesenen Sitzplatz nicht zu sehen waren. Holzinger und ihre Gemeinde machen am diesen Abend, das was sie am besten können: verblüffen und erstaunen mit Akrobatik. Selbsterkenntnis und Selbstverletzung. Am Ende entledigen sich sogar einige der Chormitglieder des Habits. Holzinger wirkt!
So schlägt das Pendel zwischen heilig und unheilig, zwischen Unterdrückung und Emanzipation, zwischen Opfer und Täter in einer permanenten Klage über des misantrophen Zustand der Welt und des Glaubens hin und her und es kommt gar zur Ausrufung eines neues Glaubens. Am Ende wird es dann ganz versöhnlich: „Don’t dream it. Be it!“ Selbstermächtigungspoesie für den Gang in die Nacht. Das Publikum darf, nein soll mitsingen. Zweieinhalb Stunden hat es da mit offenen Mund und großem Staunen still gesessen und macht da gerne mit.
Wer möchte kann sich am Ende sogar ein Souvenir mitnehmen: Anhänger mit echtem Menschenfleisch gibt es für 20 Euro.
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