Träume, Schatten, Motten
Euro-Scene IV: „Onironauta“, „Sphinctérographie/Deface“ und „The long shadow of Alois Brunner“
Wenn eine Kuh, von der Nachbarin verhext, nur noch dunkle Milch gibt, die dennoch trinkbar sein soll, dann steht dieses Bild bei einem Regisseur wie Alvis Hermanis für etwas Bedeutsames. Nicht allein um verschwindende Milchwirtschaft als Folge sich entvölkernder Dörfer seiner Heimat Lettland geht es, sondern, allgemeiner, um die Gefährdungen in unserer Zeit. Das Stück lieh symbolträchtig der mittlerweile 23. euro-scene Leipzig das Motto: „Schwarze Milch“. Auf acht Spielstätten gibt es bis Sonntag in 24 Vorstellungen 12 Gastspiele zeitgenössischen Tanzes und Theaters aus 11 Ländern Europas und mit 148 Ausführenden zu besichtigen. Festivalschwerpunkt ist der 100. Geburtstag von „Le sacre du printemps“, Vaslav Nijinskys Skandalchoreografie, die als Beginn der Tanzmoderne gilt und über Paris, den Ort der Uraufführung, Igor Stravinskys hörungewohnter Komposition zum Durchbruch verhalf. Endlos viele Tanzschöpfer haben sich an der komplexen Struktur versucht, Erwählte wie Maurice Béjart, Pina Bausch, Martha Graham, Erich Walter, Dietmar Seyffert neben Legionen Unberufener. Wie schwierig bis heute, gerade wegen der zahlreichen Ansturmversuche, die Näherung an jene „Szenen aus dem heidnischen Russland“ ausfällt, bezeugte der dreiteilige Eröffnungsabend der euro-scene.
Dankenswerter Weise stellte Enrico Lübbe als frisch berufener Intendant dem Festival nach Jahren wiederum das Schauspielhaus zur Verfügung, auch für den Wettbewerb „Das beste deutsche Tanzsolo“. Aus Montpellier brachte David Wampach mit „Sacre“ eine Version mit, die allenfalls als Kommentar oder Fußnote zur Vorgabe gelten kann. Stravinskys Musikkoloss findet darin gar nicht erst statt. Vor einer grauwinkligen Wand mit mittigem Spalt begegnet sich nach solistischen Hecheleskapaden das Paar, angstgepeinigt, beinah autistisch, wie in Flucht zueinander, akrobatisch verknotet, mit animalischem Instinkt. Schläge auf den Boden gemahnen an die Rhythmen der Musik. Als es grollend gewittert, zieht etwas ihn durch den Spalt fort, während sie, Eva geworden, einen giftgrünen Apfel isst. In eine Pylone oder einen Phallos rammen beide einen Säbel, röcheln bis zu Urschrei und Finalknall.
Auch „Le sacre du printemps“ von Georges Momboye, Wahl-Pariser von der Elfenbeinküste, leidet an dramaturgischer Beliebigkeit. Zeitgenössischen Tanz mit Afro-Elementen zu durchmixen kann nur dann reizvoll sein, wenn ein sinnfälliges Tanzkonzept zustande kommt. Dem Choreografen gelingen lediglich auf die rhythmisch akzentuierten Passagen überzeugende Teile; was Stravinsky der Fantasie an lauernd langsamen Parts anheimstellt, löst sich in Gänge auf. Unklar endet das Stück: Zehn Tänzer fallen nieder, ein Paar zappelt ohne Musik weiter.
Wie man eine tragfähige Idee umsetzt, bewies „Hunt“ von Tero Saarinen als Mittelteil des dreistündigen Abends. Ist es bei Wampach der Atem, der das Paar treibt, wird Einzelkämpfer Saarinen vom Licht gehetzt, in einer Arena aus erbarmungslos auf ihn zielenden Scheinwerfern, durch kreuzigende Spots von oben, schließlich von aufzuckenden Blitzen. Bekleidet nur mit einem weißen Rock, wirft er sich der Stravinsky-Partitur und den Lichtfluten entgegen, zitiert mit flatternden Armen das Sterberitual der Ballett-Schwäne, bekommt ein Tutu übergestülpt. Immer wieder prägen sich seinem Körper züngelnde Videosequenzen auf, die Laokoons Straftod wachrufen. Was verhalten beginnt, steigert sich bald zum Opfertaumel unter Naturgewalten und macht Saarinens Solo aus dem Jahr 2002, rund 170 Mal in 32 Ländern gezeigt, zum nach wie vor spannenden Multimedia-Erlebnis.
Den „Sacre“-Parcours komplettierte „DeSacre“ von Christine Gaigg/ 2nd nature aus Wien, das auf die Kunstaktion der russischen Frauenpunkband Pussy Riot Bezug nimmt.
Das Missbrauchsdesaster in der katholischen Kirche thematisierten die Brokentalkers aus Dublin; Elfriede Jelineks „Rechnitz (Der Würgeengel)“ um den Mord an Zwangsarbeitern in Österreich inszenierte Lübbe am Schauspiel Leipzig; Einsamkeit gestalteten Les Ballets C de la B aus Belgien in „The old king“ zu Auszügen aus Wagners Oper „Tristan und Isolde“. Gefährdungen kennen weder Zeitalter noch Gesellschaftsordnung.
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