Tote, Lebende, Besessene
Euro-Scene III: „Put your heart under your feet... and walk!“, „Xiao Ke“ und „To be possessed“
Wir haben noch eine Kippe Zeit!
„KRIZE“ von The New Post Office (DEA)
Von Emma Schindler
Die slowenische Gruppe „The New Post Office“ debütiert mit der deutschsprachigen Fassung von „KRIZE“ (Krisen) im Theater der Jungen Welt Leipzig bei dem 33. Europäischen Tanz- und Theaterfestival „euro-scene“. Inspiriert von den beiden Bestsellern „Weniger ist mehr“ von Jason Hickel und „Der Pilz am Ende der Welt“ von Anna Lowenhaupt Tsing entwickelt der junge aufstrebende Regiestar Ziga Divjak eine Performance zu sozialer Ungerechtigkeit und der allgegenwärtigen Umweltkrise.
In knapp 75 Minuten untersuchen Ziga Divak und sein Team von sieben sehr unterschiedlichen Darsteller:innen essenzielle Fragen nach der menschlichen Fähigkeit zur Kollaboration und der Notwendigkeit, die Natur als einen bedeutungsvollen Bestandteil unseres Seins zu akzeptieren und zu würdigen. Das Ziel: Das Bild der Natur neu definieren und in ihr mehr zu sehen als eine reine Ressource. Dabei zeigte die Company das Stück in Leipzig erstmalig in einer deutsceh Fassung.
In der ersten Hälfte von „KRIZE“ laufen die Darsteller:innen ununterbrochen auf der Stelle. Währenddessen wird auf’s Handy geschaut, gegessen und getrunken oder auch die Kleidung gewechselt. Dieser Vorgang zieht sich bis zu der absoluten Erschöpfung der Darsteller:innen, ein klares Bild unserer Gesellschaft. Ganz anders die zweiten Hälfte, die geprägt ist von Stille und apokalyptischen Zuständen. Die Darsteller:innen liegen auf den Boden, können sich kaum bewegen und füttern sich gegenseitig mit Lebensmittelresten. Es ist ein Blick in die uns bevorstehende Zukunft.
Wir alle sind tagtäglich mit verschiedenen Krisen konfrontiert – persönlichen, beruflichen, sozialen, politischen oder gesundheitlichen – und verlieren dabei die existenzielle, uns bevorstehende Krise aus dem Blick: die Umweltkrise. Aber was passiert, wenn man sich auf eine Krise gezielt einlässt, sie als Chance zur Transformation begreift, um ein nachhaltigeres Leben anzustreben?
Der Regisseur stellt diese Fragen und übersetzt sie hervorragend in verschiedene Ebenen und spricht so alle Sinne des Publikums intensiv an. Verschiedene Lichtfrequenzen legen ein Augenmerk auf die Spezifika der Szenen. Ein gut gesetzter Beat unterstreicht die Wissensvermittlung, ohne dass die Zuschauenden den Fokus verlieren.
Im Bühnenbild, geschaffen von Igor Vasiljev, ragen Holzstümpfen von weißen Wänden angebracht – eine Vorahnung der Umweltkrise. Innerhalb von kürzester Zeit entwickelt sich aus diesem Ort der klinischen Reinheit ein chaotisches Schlachtfeld voll Müll und Dreck als passendes Bild zu unserem ausbeuterischen Verhalten auf diesem Planeten.
Die Darsteller:innen liefern dabei nicht nur eine äußerst sportliche Leistung ab, indem sie über die Hälfte der Vorstellung joggen, zum Ende bieten sie uns eine spannende Entwicklung ihrer Charaktere. Menschen, die erst in ihrem Alltagstrott oder versunken in Arbeit vollkommen auf sich selbst fokussiert sind, werden in solch einer Ausnahmesituation zu selbstlosen Individuen. Der profitgierige Geschäftsmann gibt sein letztes Brot an Schwächer. Die letzte Zigarette wird an alle Akteure gereicht. Wenn auch längst zu spät, kommt es zu einem Akt der Menschlichkeit und des emotionalen Miteinanders. „KRIZE“ erzeugt Bilder, die nachhallen und die das Publikum sicher noch länger beschäftigen werden.
Gebeinediplomatie oder die Suche nach General Z
„Negotiating Peace“ von Quendra Multimedia (DEA)
von Malte Schwoche
Qendra Multimedia hat sich großes vorgenommen mit „Negotiating Peace“: Friedensverhandlungen auf die Bühne bringen. Es war bei der Euro-Scene als deutsche Erstaufführung zu sehen und überzeugt mit einem starkem Text von Jeton Neziraj, einer abwechslungsreichen Inszenierung von Bierta Neziraj und einem starken internationalen Ensemble. Einzig die Bühne (Agata Skwarczyńska) und die Kostüme (Blagoi Micevski) erinnern noch an trockene Verhandlungen. Abspielen wird sich dieser 90minütige Abend, der erst im Oktober Premiere in Pristina hatte, auf, unter, vor und hinter einem runden Tisch, der unschwer an den runden Verhandlungstisch der Vereinten Nationen aus den Nachrichten erinnert. Grundlage für diesen Abend ist das Friedensabkommen von Dayton, welches 1995 den jugoslawischen Bürgerkrieg bendete. Doch Dank der gesamten Ensembleleistung bedarf es kein Vorwissen, um zu verstehen worum es hier geht, zumal die Verhandlungen um das grüne Tal zwischen zwei fiktiven Staaten stattfinden. Und die sind auch nur Menschen.
Da wären etwa die koksende Vertreterin der Zivilgesellschaft, der US-amerikanische Leiter der Friedensverhandlungen, zwei Unterhändler*innen der beiden Kriegsparteien und ein General, der auf der Suche nach den Gebeinen seines gefallenen Kollegen, des General Z, ist. Bei diesem Personal wird klar: einer normalen Friedensverhandlung wird man hier nicht beiwohnen. Alles beginnt mit der Aussage, dass die Toten das Wertvollste am Krieg seien, dass es bei Friedensverhandlung auf die Toten ankomme – kurz bevor alle anfangen kollektiv mit weißen Friedensfahnen zu masturbieren.
Die Verhandlungen zu sehr realen Gräueltaten des Krieges verhandeln, werden verbunden tragikomisch verbunden mit choreographischen Zwischenspielen, in denen sich die Beteiligten neue Plätze am Verhandlungstisch suchen. Immer wieder auch unter Einsatz dreier Live-Kameras, die das Umherlaufen, der Spielenden auf die bühnenbreite Leinwand hinter dem Tisch projizieren.
Bei dem entstehenden szenischen Durcheinander, stehen die Ergebnisse der Verhandlung hinten an. Die Fragen, wie man die Straßen denn jetzt benennt und wo man die neuen Landesgrenzen zieht, erscheinen nur noch zweitrangig. Was nicht zuletzt dadurch verstärkt wird, dass die beiden Unterhändler:innen der Kriegsparteien in den letzten zehn Minuten der Verhandlung, in denen der US-Unterhändler ihnen vermeintlich die rhetorische Pistole auf die Brust setzt, lieber über ihre Kinder reden, als über den Frieden zu verhandeln. An dem haben nämlich beide nur bedingt Interesse, genau wie ihre Regierungen.
General Z wird schließlich gefunden. Die fast stumme Bedienstete des Tagungshotel hat ihn umgebracht, da er sie im Krieg vergewaltigt hat. Die theoretischen verhandelten Kriegsgräuel bekommen plötzlich ein Gesicht, doch die Tonlage des Stückes bleibt.
Kurz vor Ende werden die Spielenden über eine Durchsage von der Bühne gebeten. Der ehemalige Leiter des Zeitgeschichtlichen Forums Leipzig Reiner Eckert betritt die Bühne und referiert über die Frage, ob Verhandlungen wirklich Frieden schaffen können. Ein Einschub der interessant ist – aber auch notwendig?
Man merkt dem Text und der Inszenierung eine intensive Recherche an, wodurch die Witze nicht nur Blödeleien bleiben und eine satirische Komödie entsteht, bei der man darüber nachdenkt, worüber man eigentlich gerade lacht.
Kaminknistern und Rotwein und ganz viel Familie
„LIT1/Familie“ von Behoud de Begeerte (DEA)
Von Katharina Rings
„Du warst ein Fehlkauf“. Dieser Satz, gesprochen von einer Mutter zu ihrem Kind, fällt in Angelo Tijssens Roman „An Rändern“. Er drückt eine von vielen Facetten von Familie aus, die in den Werken dreier Autor*innen bei „LIT1/Familie“ nachgezeichnet wurden. Das Antwerpener Kunstzentrum Behoud de Begeerte brachte nämlich zur Euro-Scene flämische Literatur in das Figurentheater Westflügel. Vier Künstler*innen widmeten sich mit ihren Werken dem Thema Familie. In einer etwa einstündigen szenischen Lesung trugen sie abwechselnd Auszüge aus ihren jeweiligen Romanen vor. Erst an wechselnden Orten im Raum lesend, kamen nach und nach alle am selben Tisch zusammen, um gemeinsam anzustoßen. Die minimalistische Ausstattung mit knisternden Kaminfeuer, einem mit Rotwein gedeckten Tisch und Lesepult schaffte eine familiäre „Zuhause“-Assoziation. Die Auszüge wechselten sich mit Livemusik von Helena Casella ab. Mit Stimme und Klavier vertonte sie ihre Werke und entwickelte mit gefühlvollem, klaren Soulgesang eine intensive, energetische Atmosphäre.
Zora del Buono, gebürtige Schweizerin, zeichnete in Auszügen aus ihrem Roman „Die Marschallin“ ein Porträt ihrer kommunistischen Großmutter und stellte Fragen über Familien- und Mutterglück und ob es so etwas wie „Unglücksfamilien“ gibt. Sie gab zarte Einblicke in das Verhältnis zu ihrem jüngeren Bruder und reflektierte das Netz aus Rollen, die sie und ihre Familienmitglieder durchlaufen haben. Die Passagen aus „Jaguarman“, geschrieben und vorgetragen auf Niederländisch mit deutschen Übertiteln von Raoul de Jong erzählen von der Suche nach einem Vater und nach kultureller Zugehörigkeit. Pendelnd zwischen Rotterdam und der surinamischen Hauptstadt Paramaribo beschäftigt er sich mit Reinigungsritualen aus dem Winti-Glauben, erhält nach Monaten Nachricht von seinem Vater und entdeckt mal auf schmerzliche, mal auf humorvolle Art Puzzleteile seiner Identität. Der eingangs bereits erwähnte Angelo Tijssens präsentierte in seinem Roman auf flämisch mit deutschen Übertiteln die feinfühlig erzählte Geschichte von einer misshandelnden Mutter und ihrem Kind. Nahaufnahmen aus einer schmerzhaften Kindheit, die retrospektiv als Erinnerungen wiederkehren, als der Protagonist nach dem Tod seiner Mutter in seine Heimat Flandern zurückkehrt.
Mit der sorgfältig selektierten literarischen und musikalischen Annäherung an die Komplexität von Familiengefügen gelang es den Künstler*innen in vielen Momenten, einen Bann zu erzeugen, der sich auf das Publikum übertrug. Das Verfolgen der Übertitel und der drei verschiedenen Romanauszüge gleichzeitig stellte an manchen Stellen hohe Ansprüche an die Aufnahmefähigkeit, die dem kompletten Fallenlassen in die Atmosphäre etwas im Weg stand. Nichtsdestotrotz war es ein besonderes Erlebnis, die Auszüge in Originalsprache zu hören.
Die Texte sind Teile eines Seminars „Theater- und Tanzkritik – Selbstverständnis und Praxis“ am Institut für Theaterwissenschaft der Universität Leipzig im Wintersemesters 2023/24. Die Texte sind Arbeitsergebnisse der Studierenden. Betreut wird das Seminar von tanznetz-Redakteur Dr. Torben Ibs.
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