Tote, Lebende, Besessene
Euro-Scene III: „Put your heart under your feet... and walk!“, „Xiao Ke“ und „To be possessed“
Von Träumen beherrscht
Tânia Carvalho: „Onironauta“
Von Antonia Jorinde Jacobs
„Onironauta“ von Tânia Carvalho bildete den Abschluss der diesjährigen Euro-Scene und wurde als deutsche Erstaufführung im Schauspiel Leipzig gezeigt. Die etwa einstündige Tanzaufführung nahm die Zuschauenden auf eine ungewöhnliche und wilde Traumreise mit, bei der die Grenzen zwischen Kontrolle und völliger Ausgelassenheit immer mehr zu verschwimmen schienen.
Es beginnt mit Musik. In spärlichem Licht stehen sich zwei Flügel am linken Bühnenrand gegenüber die von Carvalho und André Santos in bunten Kleidern bespielt werden: Die wellenartigen und kraftvollen Klänge, entwickelt aus Chopins „Revolutionsetüde“ (Opus 10 Nr.12), sind von Anfang an disharmonisch und tragen zu einer mystischen Bühnenatmosphäre bei.
Die sieben Tänzer*innen transportieren von der ersten Bewegung an eine Komik, die sich durch das ganze Stück zieht. In engen und bunten Tanzanzügen und mit bemalten Gesichtern (Kostüme: Cláudia Vieira und Carvalho) hüpfen, krabbeln und rennen sie über die Bühne. Ein kurzer Moment der Synchronität und schon macht wieder jede*r was er oder sie will.
Es geht um Träume und ihre abrupten Stimmungswechsel. Mal geistert eine schlafwandelnde Person im Hintergrund, mal manifestieren sie sich durch das Spiel von scheinbaren Erwachen und wieder Einschlafen der Tanzenden. Das wirkt wie die Parodie eines klassischen Ballettabends. Klare Linien werden von skurrilen Gesten und Gesichtsausdrücken unterbrochen. In einem Moment tanzen die sieben Traumgestalten anmutig zu ruhiger Klaviermusik, im nächsten rennen sie wild über die Bühne, werfen mit Ballettschlappen und versuchen sich in oder aus den engen Tanzanzügen zu zwängen.
Während die Leistung der Künstler*innen vom ersten Moment an beeindruckt, ist das Spektakel auf der Bühne von Zeit zu Zeit fast überfordernd. Die laute Musik zusammen mit der Asynchronität der Tanzenden und die ungewöhnliche Bewegungssprache fordern hohe Aufmerksamkeit ein. Kurz vor dem Ende stacheln sich alle noch einmal zu immer groteskeren Bewegungen an und bieten in einer Art Wettkampfsituation selbstironisch ihre Fähigkeiten dar. Das Ende kommt abrupt, wie das Klingeln eines Weckers und alle „wachen auf“.
„Onironauta“ ist ein ganz besonderes Stück Tanz, das durch viel Witz und Extravaganz mit Darbietungen des klassischen Balletts spielt und eine Traumwelt kreiert, die wohl so schnell nicht in Vergessenheit geraten wird.
Verstrickungen in Geschichte
Collective Ma‛louba: „The long shadow of Alois Brunner“
Von Marie Weise
Fünf Holzstühle und ein Tisch auf einer weiß gefliesten Bühne. Dahinter hängt eine bodenlange, cremefarbene Spitzengardiene. Überall sind Zeitungen, Fotos, Textfragmente und bunte Post-its verstreut. So finden die beiden syrischen Schauspieler Wael Kadour und Mohamad Al Rashi die Bühne der kleinen Spielstätte Diskothek im Leipziger Schauspielhaus am Abend des 11. Novembers 2023 vor zur Uraufführung ihres Theaterabends „The long shadow of Alois Brunner“.
Beim Bühnenbild handelt es sich um die Hinterlassenschaften ihres Freundes und Dramatikers Mudar Alhaggi, der während der Recherche zu seinem neuen Stück über NS-Verbrecher Alois Brunner plötzlich verschwand. Ohne Dramatiker – kein Stück. Also suchen die beiden Männer in Szenenfragmenten nach Antworten: Warum hat Mudar das Stück nie beendet? Wer ist Alois Brunner und was hat seine Geschichte mit ihrer ganz persönlichen Lebensrealität als exilierte Künstler aus Syrien zu tun?
In arabischer Sprache mit deutschen und englischen Über- bzw. Untertiteln bewegen sich die beiden Spielenden in dem 75 minütigen Stück zwischen Dokumentation und Fiktion und entfalte verschiedene erzählerische (Meta-)ebenen: Da sind die beiden Schauspieler, die ihren Freund suchen und dabei Stück für Stück seine Recherche offenlegen. Da sind die Szenen in Damaskus, die Alois Brunner (gespielt von Mohamad Al Rashi) im Exil zeigen. Brunner, ehemals SS-Hauptsturmführer und rechte Hand von Adolf Eichmann, gelang 1954 die Flucht aus Deutschland. Er tauchte in Syrien unter und half dort dem Präsidenten Hafez al-Assad den syrischen Geheimdienst aufzubauen, der bis heute für die gewaltsame Unterdrückung von Oppositionen in Syrien verantwortlich ist.
Immer wieder treten Wael Kadour und Mohamad Al Rashi aus ihren Rollen heraus und von der Bühne in Richtung Zuschauerraum. Sie berichten in emotionalen Momenten von ihrer eigenen Fluchterfahrung und dem Theatermachen im Exil. So schildert Mohamad Al Rashi seine Zeit im syrischen Gefängnis, die Folter, die er dort erlebte und die Verhörmethoden des Geheimdienstes. Gekonnt treten die autobiographischen Erfahrungen in Beziehung zu historischen, gesellschaftlichen und politischen Ereignissen, in denen Brunner wie ein Phantom im Zentrum steht. Zwischen allen bedrückenden Momenten erfolgt dabei aber auch Auflockerung durch geschickten Wortwitz.
Den Mitwirkenden des Collective Ma’louba (arabisch für „auf den Kopf gestellt“) merkt man ihre Leidenschaft für das Thema an. Das Kollektiv gründete sich 2016 aus einer Initiative syrischer Theatermacher*innen, um Künstler*innen aus Syrien professionelle Arbeitsbedingungen in Deutschland zu ermöglichen. In Leipzig gelingt ihnen eine spannende Aufarbeitung deutsch-syrischer Vergangenheit, die, so wird es im anschließenden Publikumsgespräch deutlich, den meisten Zuschauenden vorher unbekannt war. Ein intimer, lehrreicher und hochpolitischer Abend über die Verstrickungen in Geschichte und den langen Schatten, den sie bis heute auf unser aller Leben werfen.
„Art is my alternative to suicide.“
Steven Cohen: „Sphinctérographie“ und „Deface“
von Helena Krause
Steven Cohen spricht mit einer Stimme, die so voll Ambivalenzen scheint, wie auch sein künstlerisches Dasein. Zart und doch fest, einladend und gleichzeitig einnehmend. Seine Stimme legt sich wie eine Decke über die Reihen im Zuschauer:innenraum. Schmetterlinge sind an seinem stark geschminkten Gesicht angebracht und er trägt hohe Pleateuschuhe, dazu einen wallenden Umhang. Im Rahmen der 33. Leipziger Euro-Scene lädt der Performance- und bildende Künstler zu einer Führung durch sein bisheriges Schaffen, nachdem er bereits mit seinem Performance-Ritual „Put your heart under your feet...and walk!“ im Schauspielhaus zu sehen war. Es ist keine Präsentation, kein Vortrag. Direkt zu Beginn etabliert der in Südafrika beheimatete Sohn einer aus dem sowjetischen Russland emigrierten jüdischen Familie, dass hier Platz ist für alle, die den Raum gemeinsam mit ihm verbal gestalten wollen. Er begegnet den Zuschauenden in der Schaubühne Lindenfels auf Augenhöhe. Der Abend teilt sich dabei in den monologisierten Teil „Sphinctérographie“ (2013) und sein persönliches Ritual „Deface“ (2008), beides in deutscher Erstaufführung.
Sphinctérographie ist eine Wortneuschöpfung von Steven Cohen. Er definiert seine Kunst als „art of the anus“ verstehen. Besser können die Performances Cohens kaum zusammengefasst werden, die im Zuge des Talks auf einer großen Leinwand in kurzen Videoabschnitten vorgespielt werden. Sein Körper und vor allem sein After und Penis, sind meist zentraler Bestandteil, und werden durch gezielte Umhüllung, oder auch Mangel dessen, inszeniert. Die Folgen seines Schaffens, sowohl gesellschaftlicher als auch juristischer Natur, schildert er mit einer Ruhe, die sich auf das Publikum überträgt scheint. Er erzählt von privaten und familiären Tiefpunkten und spricht das aus, was sich unweigerlich in seinem künstlerischen Werken bemerkbar macht: „Art has safed my live.“ Steven Cohen ist ein Grenzgänger. Er möchte verstehen, welche Abgründe dort warten, wo soziale Konventionen und das Politisieren von Körpern, nicht mehr greifen.
DEFACE ist auf eine Art und Weise ein Showcase des Abschminkens als künstlerischer Vorgang. Er widmet sich dem zeitintensiven Prozess, sein aufwändiges Make-up zu konservieren, indem er schwarzes Tape um seinen kahlen Kopf legt und sich so die Rückstände seiner Maske auf den Klebstreifen übertragen. Sein Kopf ist mit echten, wenn auch toten, Motten geschmückt. Motten, die nur einen Tag lang leben können, so wie die Maske, die er seinem Publikum präsentiert. Und jede dieser Facetten seiner Bühnenperson, möchte er archivieren.
Während er Streifen für Streifen um seinen Kopf wickelt und diese mit einer Präzision auf die Pappe vor ihm anordnet, entsteht ein Kunstwerk vor unseren Augen. Der 62-Jährige betont immer wieder, dass jede Person frei darin sei, zu bleiben oder auch zu gehen, doch die Zeit mit Cohen scheint zu wertvoll, zu fruchtbar, und für einige sicherlich auch zu preisintensiv, als dass sie sich einen Moment mit ihm entgehen lassen wollen.
Steven Cohen hegt mit Sicherheit kein Anspruch auf ein „never been done before“. Dies war keine abendfüllende Show, sondern eine geteilte Erfahrung.
Wir waren nicht da, um unterhalten zu werden, oder ein Spektakel zu sehen. Wir waren da, um ein Fragment seiner Zeit, einen Abend mit Steven Cohen zu teilen.
Die Texte sind Teile des Seminars „Theater- und Tanzkritik – Selbstverständnis und Praxis“ am Institut für Theaterwissenschaft der Universität Leipzig im Wintersemesters 2023/24. Die Texte sind Arbeitsergebnisse der Studierenden. Betreut wird das Seminar von tanznetz-Redakteur Dr. Torben Ibs.
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