Träume, Schatten, Motten
Euro-Scene IV: „Onironauta“, „Sphinctérographie/Deface“ und „The long shadow of Alois Brunner“
Leid, Blut, Asche
Steven Cohen: „Put your heart under your feet… and walk“
Von Colin Schröder
Die wenigsten Menschen im Publikum werden darauf vorbereitet gewesen sein, was sie im Schauspiel Leipzig am Abend des 9. Novembers erwarten würde. Auf dem Programm der Euro-Scene stand die Performance „Put your heart under your feet… and walk“ des südafrikanischen Performancekünstlers Steven Cohen, präsentiert in Zusammenarbeit mit den Berliner Festspielen.
Die Performance widmet er seinem 2017 verstorbenen Lebenspartner, dem Balletttänzer Elu Kieser. Die Bühne ist sein Mausoleum, dessen Boden mit zunächst merkwürdig wirkenden Kunstobjekten gepflastert ist, die bei genauerem Hinsehen alle einen eingearbeiten Ballettschuh in sich tragen. Er spricht, auf einem von Kerzen umringten Tisch sitzend, davon, dass dies für ihn ein überreligiöses Ritual sei, also seine Art zu trauern.
Leid und Schmerz sind in jeder seiner Handlungen sichtbar. Er betritt die Bühne auf Krücken, an seinen Füßen geschnallt sind Gewichte in Form von Särgen. Cohen tritt in aufwändiger Maske auf. Sein bleiches Gesicht gleicht einer Elfe, mit Schmetterlingssymbolik und Davidsstern im Gesicht. Während er sich stöhnend über die Bühne kämpft, werden im Hintergrund Videos projiziert, auf denen Cohen in ähnlicher Maske durch die Natur tanzt. Doch die sphärische Idylle der Videoaufnahmen von Richard Muller und SUH weicht schnell anderen Bildern.
Angesichts der nun projizierten Sequenzen war die Kommunikation der Euro-Scene im Vorfeld sehr zaghaft: Es gab zwar eine Trigger Warnung, doch zu versteckt und zu unausführlich. In den folgenden Aufnahmen läuft Cohen zunächst im weißen Kostüm durch einen Schlachthof, legt sich unter ausblutende Kuhkadaver, verschmiert Blut und Schlachtabfälle über seinen Körper. Immer im Fokus der Kamera. Die zweiten Hälfte des Videos fokussiert die Schlachtung einer Kuh mittels Bolzenschuss. Schonungslos wird weitergefilmt. Cohen schmiegt sich an das sterbende Tier. Man sieht das Leid in seinen Augen. Immer wieder verlassen Menschen den Saal, bei der zweiten Aufführung tags drauf wird gar jemand ohnmächtig.
Cohen toppt diesen Moment noch. Auf der Bühne spricht er ein jüdisches Gebet, versichert das er und das Gezeigte alles echt seien und setzt zum Kern seiner Performance an. Vor ihm ein Löffel, wohl mit der Asche seines geliebten. Er konsumiert diese Asche, spricht davon, das Grab seines Geliebten sein zu wollen und bittet Gott um Vergebung. Darauf verlässt er die Bühne beinahe nackt, tanzend im Nebel, aus dem das Bild des Verflossenen entsteigt. Vor ihm ein Publikum, gezeichnet von Schock, Verwirrung, Ekel und Faszination. Es wird zwar am Ende geklatscht. Bei weitem aber nicht von allen.
Was bleibt am Ende?
Gedanken über Sinn und Unsinn der gesehenen Performance. Und Gedanken über eventuelle Übergriffigkeit. Ist es nötig dieses Ritual seit der Premiere 2017 so oft vor Publikum zu wiederholen? Ist es nötig, sich in dem Leid eines sterbenden Lebewesens zu suhlen? Und ist es gerechtfertigt, die verbrannten Überreste des verstorbenen Geliebten vor Publikum zu verspeisen?
Es bleibt ein bitterer Nachgeschmack. Von einem Künstler, der seit mehren Jahren sein Leid immer wieder auf die Bühne bringt. Ist das noch Aufarbeitung, oder profitiert er nur noch davon?
Zoom in Shanghai
Jérôme Bel: „Xiao Ke“
Von Vivien Cisek
Xiao Ke ist 44 Jahre alt, Tänzerin, Single, lebt in Shanghai und hat sechs Katzen. Ihr Name bedeutet übersetzt „Kleiner Stein“, wie sie uns lächelnd mitteilt. Sie empfindet, dass dies zu ihr passt, aufgrund ihres Erscheinungsbildes. Es ist dunkel draußen, als sie uns in ihren Wohnzimmer begrüßte. Vier ihrer Katzen lagen zusammen gekuschelt im Hintergrund, zogen im Laufe des Stücks aber auch gerne die Aufmerksamkeit der Zuschauer auf sich. In Shanghai ist es zu diesen Zeitpunkt 2:30 Uhr am Morgen. Müde, jedoch mit einen Lächeln auf ihren Lippen, erzählt sie auf Mandarin, während Jérōme Bel, der die Arbeit für Centre Pompidou in Paris entwickelt hat, für uns übersetzte.
Zugeschaltet in den Ballsaal der Schaubühne Lindenfels ist sie per Live-Video zu dem nach ihr benannten Stück „Xiao Ke“. Live aus ihren Wohnzimmer nahm sie die Zuschauer*innen knapp 75 Minuten auf eine kleine Reise durch ihren persönlichen Werdegang als Tänzerin und Choreographin. Der französische Choreograph Jérôme Bel aus Paris, der die Zusammenarbeit ins Leben gerufen hat, sitzt in Leipzig auf der leeren Bühne an einem kleinen Schreibtisch am Laptop sitzt und telefoniert mit Xiao Ke. Dahinter erscheint überlebensgroß Xiao Ke auf einer Leinwand. Zu Beginn des Stücks wirkte es so, als ob Xiao Ke zu Jérôme spricht, jedoch verwandelt es sich mehr und mehr in ein privates Gespräch mit den Zuschauer:innen und Xiao Ke.
Xiao Ke performte im Laufe des Abends verschiedene Interpretationen traditioneller Tänze und gewährte so einen Einblick in Tanzstile, welche in Europa nur selten auf der Bühne zu bestaunen sind. Intim, lustig und beeindruckend - ein Stück, das überrascht. Die Tänzerin nahm uns mit in ihre Kindheit, zeigte uns Bilder von sich von ihrem ersten Auftritt, als sie gerade einmal vier Jahre alt war, bis hin in die Gegenwart. Sie öffnete sich den Zuschauern gegenüber und teilte intime Geschichten und ihr eigenes Empfinden in den verschiedenen Phasen ihres Lebens. Dazwischen performte sie für uns verschiedene Tanzstile, welche auf den ersten Blick befremdlich wirkten und doch die Zuschauer:innen verzauberten. Mit präzisen Bewegungen und eleganter Körperhaltung lässt sie ihre Mimik eine ganz eigene Geschichte erzählen. Das emotionale Gesicht sei sehr wichtig für chinesische Volkstänze, verriet sie uns: „Keep smiling, always have the hope and happiness to look far far away.“ Sie präsentiert weitere Tanzstile, welche sie im Verlauf ihres Lebens ausprobiert hat, und berichtet, was sie neben den Tanzen bewegte und beschäftigte.
Die Zuschauer:innen und Xiao Ke befinden sich weit weg voneinander und doch hatte man als Beobachter:in das Gefühl, Xiao Ke zu kennen, ihr nah zu sein und sich mit ihr verbunden zu fühlen. Die Offenlegung ihrer selbst, in ihren vier Wänden ermöglicht den Zuschauerinnen einen tiefen Einblick in ihr Leben und ihren Werdegang. Die Zeit verging wie im Flug und man konnte spüren das sich das Publikum zum Ende des Stückes mit Xiao Ke verbunden fühlte, bei diesem Theater- und Tanzstück der anderen Art führt. Lohnenswert.
Ein Tanz mit den inneren Dämonen.
Chara Kotsali: „To be possesed“ (DEA)
von Carolin Helm
Die besessene Frau, die als Hexe verbrannt wird. Das Kind, das mit einem imaginären Freund spricht. Die Künstlerin, die kurz vor ihrer Show eine Offenbarung erlebt und die Hände wie fremdgesteuert zum Himmel reißt – Wer ist besessen und warum? Wie äußert sich diese Besessenheit und wer sagt überhaupt, dass besessen zu sein, etwas Schlimmes ist?
I’m so excited. I’m about to loose control and I think I like it.
Als „Sprachrohr“ fremd-beherrschter Körper zeigt sich die griechische Tänzerin und Choreografin Chara Kotsali in ihrem Debutstück „To be possessed“ am 10. November 2023 im Kleinen Saal des Theater der Jungen Welt in Leipzig in einer deutschen Erstaufführung. Das collagenartige Bühnenbild, bestehend aus plakatierter Betonwand, Strohsack sowie drei Kuben, auf denen eine Trompete, eine Schüssel voll Tapetenleim und ein Mischpult liegen, wird im Lauf des Stücks zur Requisite. Kotsali benötigt all das auf ihrer 45minütigen Exkursion in die Welt der inneren Dämonen.
He told her: Go to Hell!
Die Bewegungssprache der griechischen Tänzerin ist intensiv, mitreißend, präzise und anspruchsvoll. Getragen von experimentellen und eindringlichen Soundcollagen, die Kotsali live mit Hilfe einer Loop-Station und einem Drumpad entstehen lässt, scheint sich ihr Körper wie von einer höheren Macht fremdgesteuert zu bewegen. Als wären ihre Arme, ihre Beine losgelöst vom Rest des Körpers, gibt sie sich ekstatischen Bewegungsformen hin.
In einem Moment greift die Tänzerin nach dem Strohsack, zieht den Inhalt heraus und bildet mit dem losen, bröseligen Inhalt einen Kreis um sich. Der Rhythmus der Musik und die Intensität der Bewegungen steigern sich zu einem Furioso. Offen bleibt, ob der Kreis symbolisch dazu dient, die Tänzerin vor den Dämonen zu beschützen oder ob andere vor ihr geschützt werden müssen?
How does it feel to be possessed?
Neben den Soundcollagen bilden eingespielte Tonaufnahmen von Personen, die erzählen wie es sich anfühlt besessen zu sein, den auditiven Rahmen der Performance. Kotsali leiht diesen Stimmen ihren Körper und bewegt dazu ihren Mund, als wären es ihre eigenen Gedanken und Erlebnisse, die sich einen Weg aus dem Inneren nach draußen bahnen. Die Personen erzählen, wie sie von inneren Stimmen angeleitet werden, Dinge zu tun, an die sie sich im Nachhinein nicht mehr erinnern können. Kotsali gibt in diesem Moment ihren Körper einer „fremden“ Stimme hin, die genau davon berichtet, wie es ist, im eigenen Körper zu stecken und doch jemand anders zu sein. Selbst- und Fremderfahrung fallen in Übereinstimmung.
Furiosa Furiosa Furiosa.
Zum Ende der Performance wird die ekstatische Stimmung aufgebrochen und durch eine zugleich erschöpfte als auch versöhnliche Gesangseinlage der Solistin abgelöst. Mit ausdauerndem Beifall bedankt sich das Leipziger Publikum bei Chara Kotsali für diese eindrucksvolle Reise in die Welt der Dämonen und der inneren Stimmen. Die Solistin lässt das Publikum mit der Frage zurück, wie viel Besessenheit in Jedem und Jeder einzelnen steckt und wie man es schafft, sich den eigenen Geistern zu stellen, ohne sich dabei selbst zu verlieren.
Die Texte sind Teile des Seminars „Theater- und Tanzkritik – Selbstverständnis und Praxis“ am Institut für Theaterwissenschaft der Universität Leipzig im Wintersemesters 2023/24. Die Texte sind Arbeitsergebnisse der Studierenden. Betreut wird das Seminar von tanznetz-Redakteur Dr. Torben Ibs.
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