Akkuladung: 120 Prozent
Louise Lecavalier mit „Stations“ im Festspielhaus Hellerau
Minutenlang steht sie auf dem Kopf. Das auf ihr Kinn hinabgerutsche Trainingshirt gibt den Blick frei auf ihren nackten Oberkörper: bebende Lungenflügel, erzitternde Muskelstränge, Rippenbögen die sich heben und senken. Während der eigene Blick diesem Torso ausgesetzt ist, unter dessen Haut sich Knochen, Sehnen und Muskelfleisch wie eine kompakte Landschaft abzeichnen, hört man Schluchzen, keuchenden Atem, eine weinende Frau. Wer tanzt da?
Der Kopfstand ist einer von mehreren starken Momenten in dem neuen Solo „So Blue“ von Louise Lecavalier, kanadische Ausnahmetänzerin und jahrelang das Gesicht von Edouard Locks „La La La Human Steps“. Erlebte es Anfang Dezember letzten Jahres seine Premiere in Düsseldorf, war es jetzt im Festspielhaus Hellerau zu sehen. Schonungslos zeigt die Künstlerin in ihm das Material, ihren Körper, den sie seit Jahren herausfordert wie wenige andere Tänzerinnen ihres Alters. Sie wollte ihrem Körper erlauben, all das zu sagen, was er sagen wollte, gibt sie ihrem Zuschauer im Programmzettel mit. Er sollte sich selbst überraschen, bis am Ende nach vielen spontanen Bewegungen jenseits dessen, was kontrollierbar ist, etwas Wahres erscheinen möge. Hier: Die Emotion, die uns zum Menschen macht. Louise Lecavalier weint.
Die weltberühmte Performance-Künstlerin Marina Abramović hatte diese Grenzerfahrung einer Entleerung von Körper und Geist schon Jahrzehnte zuvor vorgeführt, als sie stundenlang vor sich hinsprach, bis ihr Wortfluss in einem Stammeln verebbte. Louise Lecavalier wandte dieses Prinzip, das auch schon bei Forsythe beispielsweise in „Decreation“ zu erleben war, nun an, um ihr eigenes getriebenes Verhältnis zum Tanz hin in den Blick zu nehmen – und ohne sich letztendlich davon verabschieden zu können.
Zwei lange Sequenzen liegen vor und mehrere nach dem Kopfstand, in denen sie, allein auf einem Feld mit weißen Klebestrichen und drei Bahnen Tanzboden und gejagt von den Elektro-Beats von Mercan Dede, hochvirtuos und mit bestechender Dynamik ihren Körper einen seriell angelegten Bewegungsblock nach dem anderen durchleben und durchleiden lässt: mit den Füßen tänzelnd, rotierenden Gelenken, wegzitternden Gliedern, stehend, kniend, liegend - der Bewegungsästhetik eines Marco Goecke nicht unähnlich, doch das von Goecke aufgerufene klassische Bewegungssystems erweiternd und in der Wirkung viel gehetzter, weniger selbstbestimmt. Louise Lecavalier tanzt auch in ihrer neuen Produktion „So Blue“ vor allem einen ausgelieferten Menschen, einen dessen Körper ausgesetzt ist: dem harten, zermalmenden Beat, dem gehärteten, unbedingt tanzen wollenden Körper, dem Bewegungs- und auch Leistungsdrang, dem inneren Zugzwang, sich ins Rampenlicht zu stellen, auch dem eigenen Rollenbild als Tänzerin, die zur Kultfigur eines ganzen Epoche geworden war. Wenige Momente der Abweichung davon bilden jene Szenen im zweiten Teil, in denen sie mit ihrem Partner Fréderic Tavernini zu einem zarten, verwunderten Duett zusammenfindet, bei dem sie minutenlang auf seinem Rücken balanciert oder in bester La La La-Tradition einen Pas de deux aufblitzen lässt. Es ist ein starkes um Duette erweitertes Solo, dieses „So Blue“, und gleichzeitig vermisst man immer noch jenen dramaturgischen Kniff, der Lecavaliers beeindruckende Höchstleistung noch stärker in einen überindividuellen Kontext hebt, einer Gesamtaussage zuführt, die sich von ihr als Thema ablöst.
Noch keine Beiträge
basierend auf den Schlüsselwörtern
Please login to post comments