Stühlerücken auf dem Tanzboden
Das Hessische Staatsballett kommt – die Ballettchefs der Staatstheater im Südwesten wechseln
Ballettabend „Magisches Kaleidoskop“ des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden im Großen Haus
Der klassische Ballettabend, ein Dreiteiler mit zwei Pausen, entspricht nicht selten einem Drei-Gänge-Menü. Das Wiesbadener Gastspiel serviert dem Publikum in Heilbronn ein solches und das Tanzensemble aus Hessen erntet dafür tosenden Applaus. Zu Recht, denn die Köche, pardon Choreografen, die auf der Bühne im Großen Haus zu Tisch bitten, gehören zur Weltspitze: Der in Stockholm geborene Johan Inger (1967) serviert mit „Walking Mad“ ein Amuse-Gueule vom Feinsten. Keine leichte Kost ist der Hauptgang, den der in Leipzig geborene Hauschoreograf des Balletts des Hessischen Staatstheaters, Stefan Thoss (1965) mit „La chambre noire“ zubereitet. Das Dessert „Sechs Tänze“ zur Musik von Mozart, steuert der aus Prag stammende, langjährige Ballettchef des Nederlands Dans Theaters Jiří Kylián (1947) bei.
Inspiriert von Ravels „Bolero“ mit seinen zahllosen Wiederholungen ist Ingers „Walking Mad“ (2001) eine temporeiche, surreale Parabel auf Widerständiges, Verrücktes und Anstößiges, auf das neun Personen, drei Frauen und sechs Männer, bei der Partnersuche treffen. Eine Bretterwand ist Stein des Anstoßes. Zugleich trennendes wie tanzendes Objekt, weckt sie Neugier, man möchte über den Zaun schauen und sehen was jenseits passiert. Die Wand ist Hindernis, das es zu überwinden gilt, sie gewährt Schutz und bietet Halt. Der Bolero peitscht das lustige Treiben voran. Das Spiel von Jägern und Gejagten eskaliert; wenn eine der Protagonistinnen in die Fänge von drei Männern gerät, kippt der Spaß in Ernst. Während sich die Musik und mit ihr die Party irgendwo in die Ferne verzieht (in dem sie sehr leise wird), vereinsamt jemand diesseits der Wand. Schließlich bricht sie zusammen und der Trubel erfasst das Ensemble, bevor das Stück mit Arvo Pärts einsam schöner Elegie „Für Aline“ eine Wende ins Melodramatische nimmt.
Schwere Kost ist Stefan Thoss‘ „La chambre noire“ (2011): ein schwarzer Raum, der die Idee kosmischer schwarzer Löcher, die alles in sich aufsaugen, thematisiert und daran universelle Fragen knüpft: Was bewegt uns? Was ist das Leben, was ist der Tod? Für Thoss, der neben der Choreografie auch Kostüme und Bühnenbild entworfen hat, vollzieht sich das makrokosmische Geheimnis hinter schwarzen, glänzenden Vorhängen. Die Protagonisten sind in eine unsichere Welt Geworfene, Randexistenzen, die an der Schwelle ins Dunkel im Standby-Modus verharren, während andere zu Zweit oder Dritt, ihre letzten Kraftreserven mobilisieren, um in kurzen Begegnungen beglückende Momente menschlicher Wärme zu (er)leben.
Die Musik, eine von Thoss montierte Klanglandschaft, illustriert unterbrochene Auftritte und verhinderte Abgänge, indem sie melodisch harmonische Kompositionen (Bachs „Aria“ aus den „Goldberg-Variationen, Mendelssohns „Adagio“ aus der „Streichersinfonie Nr. 8 D-Dur“) mittels kreischendem Metallsound durchschneidet und zerschlägt. Thoss wie Ingers setzen musikalisch auf Kontrast: Trifft bei Ingers der sehr irdische Ravel-Bolero auf eine himmlisch entrückte Pärt-Komposition, zertrümmern bei Thoss harte Maschinengeräusche das liebliche Melos barocker und romantischer Musik. Hier schwarzer Vorhang, dort Bretterwand, gleichen sich auch die räumliche Anordnung. Doch Thoss gibt dem Ganzen eine existenzielle Note, die beim Publikum zwar keinen Szenenapplaus (wie bei Ingers) hervorruft, aber mit intensivem Beifall bedacht wird, der leider durch rasches Saallicht abgewürgt wird.
Wie geschaffen zum Rausschmeißer ist das frivol gewitzte Sahnehäubchen: „Sechs Tänze“ zur Musik Mozarts. Der war selbst ein leidenschaftlicher Tänzer und hätte an diesem fantasievoll überzeichneten Bravourstück aus dem Jahr 1986 seine helle Freude gehabt. Von dieser sind die fabelhaften Tänzer des Wiesbadener Ensembles ebenso erfasst wie das Heilbronner Publikum – kurzum: Für alle Beteiligten ein Abend voll Esprit.
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