Ein Triumph der Jugend
John Neumeier eröffnet die 48. Hamburger Ballett-Tage mit „Romeo und Julia“
„Shakespeare Dances“ eröffnet die 39. Hamburger Ballett-Tage zum 40-jährigen Jubiläum der Kompanie
Traditionell beginnen die Hamburger Ballett-Tage an einem Sonntag mit einer Premiere – im Zeichen der Jubiläumsspielzeit gab es dieses Jahr eine vorverlagerte Eröffnung mit einer öffentlichen Preview am Samstag. Nicht ohne Grund: Aus Anlass des 40-jährigen Jubiläums hatte John Neumeier alle ehemaligen Tänzer und Mitarbeiter zu dieser Preview eingeladen – rund 170 waren seinem Ruf gefolgt und aus aller Welt angereist.
Schon am Tag zuvor waren sie für einen Empfang der Kultursenatorin Barbara Kisseler zu Ehren der Kompanie und auch der früheren Mitglieder des Hamburg Ballett ins Rathaus gebeten worden. Dort sprachen Heather Jurgensen für die Ehemaligen und Lloyd Riggins für die heutigen Tänzer. Was die Arbeit mit John Neumeier ausmacht, brachte Lloyd Riggins auf den Punkt: „Als ich zum Hamburg Ballett kam, hatte ich gelernt, wie ich mich auf der Bühne zu präsentieren habe, aber John interessierte das nicht, er fragte: Wer bist Du?“
Es ist wohl genau dieses, was die „Hamburger Schule“ ausmacht und ihr einzigartiges Profil prägt: auf der Bühne das Sein in den Mittelpunkt zu stellen, nicht den Schein. Und es ist das, was John Neumeier in seinen Werken von jedem einzelnen seiner Tänzer immer wieder aufs Neue fordert: ganz er/sie selbst zu sein, seine/ihre Individualität zu zeigen, sein/ihr Innerstes nach außen zu kehren, zugleich ständig an der Technik zu feilen, stets das Beste zu geben und täglich aufs Neue „Ja“ zu diesem Beruf zu sagen.
Auf dieser Basis ist ein Ensemble entstanden, dessen Tänzergenerationen 40 Jahre lang nahezu bruchlos ineinander übergingen. Nahmen die einen ihren Abschied, waren neue da, die sich an den großen Vorbildern orientieren konnten, um später den Stab an die Nachfolgenden weiterzugeben – seit 1973 haben insgesamt 422 Tänzer das Hamburg Ballett geprägt, 108 Werke wurden als Premieren gezeigt (davon 97 zumeist abendfüllende Werke des Hausherrn selbst). Die Tänzer, so sagte Neumeier in seiner kurzen Begrüßung auf offener Bühne, haben seine Choreographien auf die Bühne getragen und dort zum Leben erweckt, durch sie und mit ihnen werden sie weitergetragen – besser als über jede DVD oder Notation.
Insgesamt neunmal hat Neumeier sich mit Shakespeares Werken befasst und sie in Bewegung transskribiert, in eine wortlose und doch überaus beredte Form, die nie eine plumpe Übersetzung des Sprachlichen darstellt, sondern eine fein ziselierte Charakterisierung in Ausdruck, Gestik, Haltung, Schritten. Shakespeare, das ist für ihn „der humanste von allen Dichtern.“ Man könne ihn nicht verstehen, wenn man nicht seine eigene Menschlichkeit mitbringe. Das lässt sich weiterführen: auch Neumeiers Choreographie kann man nur erfassen, wenn man bereit ist, sein Herz zu öffnen für die Gefühlswelt, die im Tanz entsteht.
Zu Beginn nun also eine Wiederaufnahme mit ausgewählten Szenen aus drei seiner normalerweise abendfüllenden Shakespeare-Ballette: „Mozart und Themen aus 'Wie es Euch gefällt'“ (1985), „Hamlet“ (1997) und „VIVALDI oder Was ihr wollt“ (1996). Erstaunlicherweise klappt das – die Versatzstücke verweben sich zu einem dreistündigen, in sich stimmigen, farbenreichen Abend unter dem Motto „Die ganze Welt ist Bühne“. Carsten Jung, in Jeans und T-Shirt fahrradfahrend auf die Bühne kommend, führt wie eine Art Conférencier durch alle drei Stücke – spricht (mit charmantem, leicht sächselnden Akzent!) hin und wieder einige erklärende Worte und bringt sich auch tanzend selbst mit ein.
„Wie es euch gefällt“ zu zwei selten gespielten Mozart-Sinfonien gliedert sich in fünf Themen: die Ungerechtigkeit, Flucht und Verkleidung, eine Schäferidylle, Verwirrung der Liebe und Happy End. Neumeier zieht hier alle Register zwischenmenschlicher Begegnungen: von den perückenbedressten Barock-Tänzen, die immer wieder gebrochen werden durch schmissig-frische schnelle Bewegungsfolgen (Präzisions-Schwerstarbeit für das ganze Ensemble!), über heiter-schwerelose Mädchen-Freundschaft (grazil, elegant und souverän: Mariana Zanotto als Celia und Silvia Azzoni als Rosalind), die übermütigen Schäfer-Tänze (mit einer grandiosen Patricia Tichy als liebestolles Bauermädchen Audrey, Kiran West mit Frauenkleidern als Orlandos Diener Adam sowie Konstantin Tselikov als Clown Touchstone) bis zum lyrischen Liebes-Pas de Deux zwischen Orlando und Rosalind (berührend schön: Silvia Azzoni und Alexandre Riabko). Bis ins kleinste Detail ausgefeilte Situationskomik wechselt sich ab mit melancholisch-schwermütigen Momenten, derber Erdverbundenheit und zarter Hingabe.
Vor der Pause noch die Überleitung zum nächsten Teil: Hamlets Abschied von Ophelia, bevor er zum Studium nach Wittenberg geht. Hamlet ist zu dieser Zeit ein aufgeregter, reisefiebriger Jüngling, fast linkisch wirkt er in seiner Unbeholfenheit, ein noch erkennbar unfertiger Mensch. Ophelia als reine Unschuld, frisch verliebt und von Heiterkeit durchpulst, aber ebenso von einer tragischen Ahnung kommender düsterer Zeiten. Anna Laudere und Edvin Revazov gestalten diese frühe Liebe mit einer großartigen Hingabe und Intensität, die sich im zweiten Teil nach der Pause dramatisch ins Tragische steigert, wenn Hamlet den Tod seines Vaters (fast schon dämonisch: Florian Pohl) rächt, indem er seinen Onkel Fenge (Dario Franconi in martialischer Latex-Montur gibt einen überzeugenden Fiesling ab) ermordet. Leslie Heylmann ist eine in ihrer Trauer ebenso verzweifelte wie ihrem Schicksal ergebene Mutter. Sie und das ganze Ensemble finden hier zu einer schwermütigen Dramatik, die in Kombination mit der modernen Musik Michael Tippetts in großartigem Kontrast steht zu der verspielten Leichtigkeit des ersten Teils. An dieser Stelle seien auch die Hamburger Philharmoniker unter Simon Hewett besonders hervorgehoben, die an diesem Abend die Musik von drei höchst unterschiedlichen Komponisten ebenso einfühlsam wie gekonnt spielen und sich mit dem Tanz zu einem großartigen Gesamtkunstwerk vereinigen.
Mit „VIVALDI oder Was ihr wollt“ folgt dann als Teil 3 eine Art Synthese von Heiterkeit und Melancholie. Ein Zwillingspärchen erleidet während eines Sturms Schiffbruch und strandet in einem unbekannten Land, wo es auseinandergerissen wird. Das Mädchen Viola dient am Hofe eines liebeskranken Herzogs (herzerweichend: Thiago Bordin), während ihr Bruder Sebastian von Antonio, dem Kapitän des gestrandeten Schiffes, gerettet und geliebt wird. Neumeier gestaltet hier einen seiner großartigen Männer-Pas de Deux, den Thomas Stuhrmann als Antonio und Lloyd Riggins als Sebastian wunderbar ausspielen – souverän-führend der eine, verwirrt-suchend der andere. Carolina Aguero ist eine umwerfend komische Viola, Hélène Bouchet als Gräfin Olivia vergisst vor lauter Traurigkeit das Leben, bis sie durch Viola die Fröhlichkeit wiederfindet und sich alles – natürlich – in Wohlgefallen auflöst und sich die Richtigen finden: der Herzog das Mädchen Viola, die Gräfin deren Bruder.
Das furiose Finale bringt alle 45 Tänzer noch einmal zusammen auf die Bühne, mit Chapeau claque und Clownsnasen (orientiert an der Kostümierung von Viola und Sebastian) – zu einem heiter-ausgelassenen Schluss voller Lebendigkeit. Das Publikum sowohl der Preview als auch der Premiere feierte das gesamte Ensemble und den Choreographen mit einhelligem Jubel und Standing Ovations.
Zu Recht: Denn diese drei Stücke bieten tatsächlich einen großartigen Einblick in Neumeiers Schaffenskraft und ebenso in das Können der Tänzer, denen sogar zum Ende dieser langen und anstrengenden Jubiläumszeit kaum Schwächen anzumerken sind. In diesem dreiteiligen Abend ist alles drin, was das Leben so zu bieten hat an Schicksalsschlägen und Grausamkeiten, aber auch an Höhepunkten und Höhenflügen. Sie zeigen Neumeiers Schaffenskraft und Einfallsreichtum, sein gewaltiges Vokabular, wenn es darum geht, Gefühle in Bewegung umzusetzen – in aller Zartheit und Verletzlichkeit, aber auch mit aller Virtuosität und Kraft. All seine Kreativität kreist immer wieder um das eine, was uns Menschen am meisten berührt und bewegt: die Liebe – in allen nur denkbaren Schattierungen und Ausprägungen.
Für Neumeier steht im Ballett der Mensch immer im Mittelpunkt, „seine Bewegung in Raum und Zeit ist der Stoff, aus dem die Tanzkunst gemacht ist – der menschliche Körper ist gleichermaßen das Instrument der Choreographie und ihr Sujet“, schreibt er selbst in dem überaus opulenten 468 Seiten dicken Jahrbuch (eine Meisterleistung von André Podschun für Redaktion und Layout sowie Holger Badekow für Fotografie und Gestaltung und mit 25 Euro mehr als sein Geld wert). In 40 Jahren hat Neumeier mit seinen Werken und auch mit seinen Anforderungen an die Tänzer, sich stets verändern zu können, offen zu sein, wandlungsfähig, das Hamburg Ballett zu einer Kompanie geformt, die – wie er selbst sagt – „den Stärken ihrer Charaktere vertraut und sich gemeinsam dem Wagnis neuer Entdeckungsreisen stellt.“ In den kommenden drei Wochen wird vielfach Gelegenheit sein, das zu bestaunen. Glückliches Hamburg!
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